„Dieses Buch ist auch eine lehrreiche Schrift über eine Pressefehde unserer Zeit, über die Künste des Verstehens und Nichtverstehens, über unbewiesene Behauptungen, über zweckgeleitete Argumentation, über scheinbar logische Schlüsse, gezielt und versehentlich falsche Interpretationen, Argumente ad personam, wo man sachlich reden könnte … Nicht immer ist die Meinung, die sich ,durchgesetzt‘ hat, ,richtig‘. Zu Ende wird die Diskussion nicht sein.“ Eine Rezension von GNOMI.
„Noch immer– mein Leben“. Das ist der dritte Band von Hartmut von Hentigs Autobiographie „Mein Leben“, aber der Zusatz „ … und bejaht“ ist entfallen. Der Band ist so dick, wie die beiden ersten Bände zusammen, eine ungeheure disziplinierte Leistung eines 90jährigen. Er enthält eine Fülle von Reflexionen und Erinnerungen an Begegnungen, Gespräche, Auseinandersetzungen … Hentig bekommt Gelegenheit, sich noch mal zu erklären – ausführlich. Wer meint, diesen Text hätte der Verlag verweigern sollen, tritt offenbar für Zensur ein und sollte nicht ernst genommen werden. Eine andere Frage ist, ob der Band für den Verlag ein Geschäft wird. Mutig ist der Verlag schon. Und: Wer liest schon 1360 Seiten?
Dokumentiert sind Angriffe auf Hentig, die ein Mensch kaum ertragen kann, der nicht gewohnt ist, Opfer von „shitstorms“ zu sein. Trotz der vielen klugen Entgegnungen ist dem Leser diese Lektüre schmerzhaft.
Vermutlich ist die erste Frage der meisten Leser: Was sagt Hentig nun zu Gerold Becker?
Man findet die deutlichste Antwort auf S. 586: Hentigs Verurteilung der Taten von Gerold Becker. Die Erinnerung daran, dass er dies schon 2011 eindeutig geäußert hatte: S.1037. Die Vorgänge 1997-1999 werden detailliert beschrieben. Wieder wird deutlich, dass Hentig zur Tatzeit (bis 1985, also schon damals 12 Jahre zurückliegend) von Beckers Taten nichts ahnte und nichts wusste, und auch den ab 1997 aufkommenden Anklagen hat er einfach nicht geglaubt. Sein Verhältnis zu Becker, das in diesem Band eingehend geschildert wird, hat ihn an einer entschiedenen Aufklärung gehindert. Das bekennt er heute als seine Schuld.
Sicher gilt auch hier, dass Liebe blind macht. Dass manche von Hentigs Kritikern das nicht wahrhaben und Liebe zwischen Männern einfach nicht als Liebe sehen wollen, dürfte manchen Angriff erklären. Hentigs Berichte über den gemeinsamen Alltag zeigen, dass verschiedene Seiten von Becker wahrgenommen wurden, wie das offensichtlich auch in der Odenwaldschule der Fall war. Eine Aufklärung im Sinne einer klaren Beweisaufnahme und -würdigung der Gesamtvorgänge hat es nicht gegeben. Das ist bei Ereignissen, die nach dem Tod der Hauptperson in die Öffentlichkeit kommen, oft der Fall. Viele historische Tatsachen sind allgemein anerkannt, auch wenn die „Beweislage“ dünn ist.
Die Auseinandersetzung mit Hentig geht um die Anerkennung der Realität von Beckers Taten, nicht um deren Billigung oder Ablehnung. In der Ablehnung stimmt Hentig mit seinen meisten Kritikern überein. Dass jemand, der auch nur in die bekanntesten Texte von Hentig geblickt hat, Hentig zutraut, dass er die Belastung einer pädagogischen Beziehung mit aufgedrängter Sexualität billigen könnte, ist schon absurd.
In Hentigs Schriften fällt auf, dass Sexualität dort nicht die Rolle spielt, die eine an Freud gebildete Generation ihr zumisst. In diesem Buch stellt Hentig sehr offen seine eigenen Probleme dar und versucht zu erklären, warum er darüber nicht sprechen konnte. Wenige Menschen seiner Generation haben darin anders gehandelt als er, aber sehr wenige haben zu so viel Offenheit gefunden, wie sie dies Buch zeigt.
Hentig wehrt sich auch dagegen, dass er selbst entlastet wird, indem die negative Bewertung allein auf Gerold Becker fällt. Dies empfände er als Verrat an der Freundschaft (S. 955 ff.(959)).
Auch wenn Hentig also diese Bewertung Beckers ablehnt – als Freund über den Tod hinaus – so bleibt es doch dem fernen Betrachter unbenommen, das so zu sehen. Die Opfer, aber auch Hentig selbst, hatten und haben unter Beckers Verhalten zu leiden, die Opfer unter seinen Taten, Hentig unter einem Verschweigen, das man nur als jahrelanges Lügen bezeichnen kann – Becker hat dies verursacht, gleich ob Hentig ihn deswegen anklagt oder nicht. Ein Urteil, wie groß Beckers „Schuld“ ist, ob er selbst am meisten darunter litt, wie Hentig sagt, kann und muss ein Außenstehender nicht haben. Hentig bekennt, dass Becker ihn nie so geliebt habe, wie er Becker (S. 1055).
Wer sich für die zurückliegende Kontroverse interessiert und die Beiträge und Argumente noch einmal gesammelt sich vergegenwärtigen will, dazu auch viele, die auch dem aufmerksamen Beobachter entgangen sind, sollte das Buch lesen.
Es ist auch eine lehrreiche Schrift über eine Pressefehde unserer Zeit, über die Künste des Verstehens und Nichtverstehens, über unbewiesene Behauptungen, über zweckgeleitete Argumentation, über scheinbar logische Schlüsse, gezielt und versehentlich falsche Interpretationen, Argumente ad personam, wo man sachlich reden könnte … Nicht immer ist die Meinung, die sich „durchgesetzt“ hat, „richtig“. Zu Ende wird die Diskussion nicht sein.