„… oder um mit Hartmut von Hentig zu sprechen: ‚Vernunft und Menschlichkeit stellen sich von selbst wieder ein. Gnadenloser Unverstand befördert, ja erzwingt ihren Wiedereinzug.‘ (Noch immer mein Leben, Seite 1143)
Die jetzt im Bereich der Erziehungswissenschaften geführte – und hoffentlich erst im Anlaufen begriffene – Debatte wird durch die ‚von Hentig Entscheidung‘ geradezu befeuert und beendet das lange Schweigen der Vernunft.
Bisher hatten die Eiferer der Anklage die Deutungshoheit weitgehend widerspruchslos erobert. Geschützt von ihrer vorgeblichen Betroffenenbezogenheit, jede Kritik als Verhöhnung derselben verurteilend und sich damit gegen jede Kritik immunisierend, hat der Vorstand nun das Tor zur Möglichkeit einer vernunftorientierten Debatte aufgestoßen. Wenn ich“, so ALFONS KLEINE MÖLLHOFF, “ hier lediglich von einer Möglichkeit spreche, so beziehe ich mich auf die gegenwärtig noch von mir jedenfalls so wahrgenommene Affektgeladenheit der Debattenbeteiligten.
Derzeit bewegt sich die Debatte immer noch näher an den Standards von Hexenprozessen als an den Standards wissenschaftlicher, rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien. Es ist die Verletzung von Verfahrensstandards, die es (erst) jetzt den klammheimlichen Parteigängern Hartmut von Hentigs ermöglicht, auf der Bühne zu erscheinen.
Das Recht und insbesondere das Strafrecht haben das zivilisatorische Verdienst, zu zunächst unübersichtlichen Sachverhalten Klarheit herzustellen. Dabei wird dem Verfahren, niedergelegt in der Strafprozessordnung, gegenüber dem materiellen Strafrecht, dem Strafgesetzbuch, Vorrang eingeräumt. Wenn folglich Verfahrensbestimmungen und Rechte des Beschuldigten verletzt wurden, kann ein materieller Schuldspruch keinen Bestand haben. In der jetzt anlaufenden Debatte plädiere ich strikt dafür, Verfahrensfragen von Sachfragen zu trennen, zunächst also das Verfahren transparent darzustellen und die damit verbundenen offenen Fragen zu klären.
Der Vorstand der DGfE hat in seiner mir heute zugegangenen „Stellungnahme des DGfE-Vorstands zu den Reaktionen auf den Beschluss, Hartmut von Hentig den Ernst-Christian-Trapp-Preis abzuerkennen“ die Notwendigkeit von Verfahrensstandards anerkannt und meint, diese angemessen angewandt zu haben. Die neuerliche Stellungnahme dokumentiert das Gegenteil.“
Sechs Anmerkungen und ein Vorschlag zum Klärungsprozess
Von ALFONS KLEINE MÖLLHOFF
1.
Unter 2. wird beschrieben, dass es für den Vorgang keine Regeln gibt, „dass in der Satzung der DGfE weder die Vergabe noch eine etwaige Aberkennung von Preisen geregelt ist.“ Damit reklamiert der DGfE-Vorstand für sein Vorgehen eine Art „sui generis-Modus“ der ihn grundsätzlich berechtigt, eine Person zum Heiligen durch Preisverleihung zu sprechen oder als Hexer zu brandmarken im Falle der Aberkennung. Das geltende Recht der DGfE ist damit näher am Recht der Inquisition angesiedelt als an modernen, rechtsstaatlichen Verfahrensweisen. Das dies problematisch sein dürfte, hat der Vorstand mit in sein Kalkül gezogen. Er hat ein Verfahren eigener Art eingeleitet und zunächst den Ethikrat um Stellungnahme gebeten. Die ist bislang unbekannt, hatte aber ein Ergebnis, dem der Vorstand nicht folgen (können) wollte. Anstatt nun den Ethikrat erneut, versehen mit den verständigen Vorstandszweifeln, zu bitten, seine Empfehlung zu überdenken und damit in einem halbwegs geordneten Verfahrensgang zu bleiben, werden nun bis heute unbekannte Expert*innen angehört. Was die gesagt haben, wer also mit welchen Argumenten andere aus dem Weg geräumt hat, wird zum Geheimverfahren. Dies verlangt der wissenschaftlichen Community und den von außen darauf Schauenden entweder einen paternalistischen Charakter ab oder ermuntert zum aufklärerischen Widerstand, um nicht in der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu verharren.
(Die Auswahl der Autoren zum Themenschwerpunkt der jüngsten Ausgabe der „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft“ kann man nur als einseitig bezeichnen. Hier wurde niemand eingeladen, der im Verdacht stand, die gewichtigen Argumente der anderen Seite (v. Hentig) auch nur zu bedenken. Das Ergebnis ist nicht Aufklärung zum Sachverhalt, sondern eine im wissenschaftlich elaborierten Stil vorgetragene Apologie – was zu belegen wäre, hier aber den Rahmen sprengen würde.)
Obwohl unter 2. darauf bezugnehmend, sagt der Vorstand in seiner Stellungnahme nichts zur geforderten Transparenz von Verfahren und Begründung. Er bleibt damit jenseits der Aufklärung. Dilemma hin oder her, gerade wenn es so ist kann doch ein selbstbewusster Akteur seine Stärke darin beweisen, dass er alles offenlegt. Letztlich agiert der Vorstand der DGfE nicht anders, als etwa die Verantwortlichen der Odenwaldschule oder auch andere Organisationen, wenn sie sich mit unerfreulichen Vorgängen beschäftigen müssen. Einem Berufsstand, der etwa im schulischen Bereich einen guten Teil seiner Tätigkeit mit Fehlerkorrektur verbringt, könnte allerdings eine selbstbewusste Fehlerkultur gut zu Gesicht stehen.
2.
Die Argumentation unter 3. zum Prinzip „audiatur et altera pars“ ist entweder abenteuerlich für eine sich demokratisch verstehende Organisation oder den Gewohnheiten der Voraufklärung geschuldet. (Hier entstand mein schon zuvor benannter Bezug zum Hexenunwesen.)
Der Vorstand argumentiert, er habe von Hentig quasi angehört, über dessen Veröffentlichung an anderen Orten, und mehrheitlich gewusst, dass eine Anhörung keine neuen Erkenntnisse bringen würde. Das Ross ist ziemlich hoch und auch die Vorstandsmitglieder der Mindermeinung sind mit auf dieses Ross gestiegen.
Gerade wenn der Vorstand Recht hat mit seiner Erkenntnisvermutung, dann hätte er doch v. Hentig – schadlos für den Preisaberkennungswillen – anhören können. Allerdings, hätte von Hentig nach den Reitern gefragt und sich deren argumentative Waffen zeigen lassen. Da hätten einige Visiere aufgeklappt werden müssen. Wie die Verhältnisse nun liegen, wird genau das nun geschehen müssen. Die tumbe, törichte Vorgehensweise wird wahrscheinlich die Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Publikums schärfen und kritische Positionen aus der bislang schweigenden Mehrheit ermöglichen.
3.
Unter 4. benennt der Vorstand, er habe mit seiner Aberkennungsentscheidung „wissenschaftliche und ethisch-moralische Fragen“ voneinander getrennt. Ausweislich der originären Aberkennungsbegründung gelingt dies in einem einzigen Satz. Die Alternative, v. Hentig zu kritisieren ohne Preisaberkennung, hätte diese Trennung verunmöglicht. Entweder mangelt es mir an Klugheit, das zu verstehen oder (…) ich bitte, mir das in etwas mehr Worten zu erläutern.
Im Ergebnis dürfte eine Kritik ohne Aberkennung wohl kaum in einem Satz gelingen. Jedenfalls hätte der Vorstand sich nicht mit einem dürren Satz, so wie geschehen, dem Dilemma entziehen können.
4.
Unter 5. stellt sich der Vorstand auf die Seite der Opfer. Das ist mir, als Betroffener, zu billig. Denn die Erziehungswissenschaft gehört, zumindest als begründeter Anfangsverdacht, zu den tatermöglichenden Bedingungsstrukturen. Die jetzige Überidentifikation mit den Opfern hilft denen vielleicht als Placebo. Mir kommt das eher wie ein Hütchenspiel vor: Schaut, wir sind es nicht, wir sind die Guten. Bei diesem Spiel bedarf es auch eines Hütchens, unter dem sich der Schuldige befindet. Die Preisaberkennung hat dies benannt.
(Die Frage des Verhältnisses von Betroffenenbezogenheit zur Wissenschaft wäre eines kritischen Diskurses würdig. Außer, dass es wohlfeil ist, sich nach jahrelangem Wegsehen nun auf deren Seite zu stellen, habe ich bislang dafür nur moralische, aber keine wissenschaftlichen Begründungen gefunden.)
5.
Unter 6. findet sich, kurz gesagt: Egal, was wir tun, war klar, dass es richtig und falsch zugleich sein wird. Dann kann man entweder, auch mangels Satzungsvorgaben, würfeln oder, wie es die Juristen tun, sich gerade besonders intensiv um Präzision und Transparenz im Verfahren bemühen. Letzteres wird nun nachzuarbeiten sein.
6.
Unter 7. wird durchaus anerkannt, dass von Hentig seine Kritiker einer „minutiösen Kritik“ unterzieht. Diese minutiöse Kritik mag sich nun als richtig oder falsch erweisen. Den Vorstand interessiert das nicht. Er zählt die Zeilen.
Bislang kann ich eine große mediale wie wissenschaftliche Weigerung feststellen, die minutiöse Kritik zu entkräften. Das könnte doch für Betroffene auch eine ihr Leid anerkennende Leistung sein. Stattdessen werden sie mit billiger Moral abgespeist.
Abschließend benennt der Vorstand von Hentigs Position als „problematisch“ und bezieht sich dabei auf die Gewichtung von Zeilen und Moral. Natürlich muss ein Buch, dass jemand vorrangig zu seiner Erklärung in einem Konflikt schreibt, der ihn unzweifelhaft beschädigt hat, auch problematische Stellen oder gar Positionen enthalten. Erst wenn dies ein gewisses zu begründendes Maß übersteigt, Falsches minutiös benannt wird, dem Kritisierten weitere Erklärungen abverlangt und ermöglicht werden, erst zum Ende eines solchen Prozesses, der die Würde aller Beteiligten berücksichtigt, darf ein Ergebnis wie die Preisaberkennung stehen.
Es wird einiges nachzuholen sein, um rechtlichen und wissenschaftlichen Frieden wieder herzustellen.
Schlussbemerkung, gerichtet an die Kritiker des Vorstandes der DGfE:
Die meisten, die den Vorstand jetzt öffentlich kritisieren, haben bislang geschwiegen:
- dazu, dass der WAMIKI- Verlag mit seinem Namen: Was mit Kindern in die Ecke der Täter gestellt wurde,
- dazu, dass Lutz van Dijk öffentlich vom Betroffenenrat diffamiert wurde,
- dazu, dass Damian Miller in der „Frankfurter Rundschau“ jede kritische Position als Fortführung des Missbrauchs anklagte…
Die Liste ließe sich noch beliebig fortführen. Damit wurde ein Umgangsstil toleriert, der jegliche offene Debatte (die davon lebt, dass auch etwas Falsches gesagt werden darf) verhindert.
Aus dieser Sichtweise sind die Kritiker des Aberkennungsbeschlusses mit den Bedingungen verwoben, die den Beschluss ermöglicht haben. Aus dieser Situation der gemeinsamen Verantwortung herauszukommen, erfordert einen klugen Rückzug auf allen Seiten. Das mag kaum auf offener Bühne gelingen. Vielleicht sollten beide Seiten Herolde (Mediatoren) benennen, die einen Vorschlag zum Klärungsprozess erarbeiten?
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