# Frage an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindermissbrauchs

LUTZ VAN DIJK hinterfragt die Meldung der „Frankfurter Rundschau“ (30.Juni 2016, siehe unten) und schreibt einen Brief an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
An die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindermissbrauchs, Berlin
An die Vorsitzende Frau Prof. Dr. Sabine Andresen, Frankfurt/M.
An das Kommissionsmitglied Herrn Prof. Dr. Jens Brachmann, Rostock

Betr.: Öffentliche Mitteilung von Herrn Prof. Dr. Jens Brachmann (Rostock, 9. Juni 2016) – und Folgen

Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Andresen, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Brachmann,

aus dem Beitrag des Journalisten Pitt von Bebenburg in der „Frankfurter Rundschau“ (FR) habe ich am 30. Juni von Ihrer öffentlichen Stellungnahme „Gedanken zur Veröffentlichung des 3. Teils der ‚Erinnerungen‘ von Hartmut von Hentig im Verlag WAMIKI“ erfahren. Es gelang mir dann, Ihren vollständigen Text, sehr geehrter Herr Brachmann, den Sie nach eigenen Angaben auch im Namen der Kommission schrieben, im Internet zu lesen.

Bitte erlauben Sie mir, bevor ich Ihnen dazu schreibe, zunächst eine Vorstellung meiner Person:

Ich bin Deutsch-Niederländer, 1955 in Berlin geboren, später in Hamburg Lehrer und aktives Mitglied der GEW und schließlich fast zehn Jahre Mitarbeiter des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam. Seit 15 Jahren lebe und arbeite ich mit meinem Mann in einem Township Projekt für von HIV/Aids betroffene Kinder und Jugendliche in der Nähe von Kapstadt. Südafrika hat weltweit eine der höchsten Raten sexueller Gewalt gegen Kinder und Frauen. Dies gehört auch zu unserem Alltag – und ist damit Teil der konkreten Unterstützung von auf diese Weise HIV infizierter Kinder und Jugendlicher (siehe auch: www.hokisa.co.za). Mein vor vielen Jahren erschienenes Jugendbuch „Township Blues“  wird noch immer an vielen Schulen Südafrikas in den 8. Klassen gelesen, um Schülerinnen und Schülern, aber auch Lehrerinnen und Lehrern Gesprächsanlässe zur Prävention und Überwindung des Schweigens zu ermöglichen (in Deutschland erhielt die deutsche Ausgabe 2001 den Gustav Heinemann Friedenspreis). Das Folgebuch „Themba“ wurde 2010 in Südafrika für das Kino verfilmt und noch immer regelmäßig im Fernsehen wiederholt.

Vor diesem Hintergrund begrüße ich uneingeschränkt die Arbeit Ihrer „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindermissbrauchs“, begonnen im Januar 2016 und geplant bis März 2019 als wegweisend und auch international von Bedeutung. Vor allem Ihr Fokus der konkreten Unterstützung für Betroffene ist wertvoll.

Hartmut von Hentig kenne ich seit mehr als 35 Jahren, zunächst als Student, später als Mitglied der bundesdeutschen Friedensbewegung, schließlich auch als Kollegen und Freund, wobei unsere Freundschaft immer auch einen kritischen Dialog beinhaltete (ich gehörte nie zu seiner „Fan-Gemeinschaft“, die mich eher befremdete – und die ihn nun auch mehr als manch andere verurteilt). Dies ist z.B. in meinem kritischen offenen Brief vom März 2010 im „Tagesspiegel“ („Was Hartmut von Hentig damit zu tun hat“) nachzulesen, teilweise auch in einem Kapitel seines neuesten Buches.

Wo wir fraglos übereinstimmen, sehr geehrter Herr Brachmann, ist die Notwendigkeit, alle Informationen, Dokumente und Originalaussagen aller Beteiligten, auch im Kontext der Täter, zugänglich zu machen, um daraus für die Zukunft zu lernen. Ihre öffentliche Stellungnahme vom 9. Juni erscheint mir dabei bei allen guten Intentionen jedoch eher problematisch. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen und Ihrer Kommission dies mit einigen Fragen zu verdeutlichen und dann auch inhaltlich zu begründen:

1. Warum stellen Sie Ihren Text mit drei konkreten Forderungen an Hartmut von Hentig und den Verlag (Hartmut von Hentig möge 1. zu einer öffentlichen Anhörung kommen, er solle 2. den privaten Nachlass von Gerold Becker der Kommission zur Verfügung stellen und der Verlag möge 3. Gewinn aus dem Buch einem Fond für Opfer zur Verfügung stellen) zuerst der Presse zur Verfügung (siehe FR vom 30. Juni), derweil weder Hartmut von Hentig noch der Verlag bis heute von Ihnen direkt gehört haben ?

2. Warum soll es eine „öffentliche“ Anhörung werden – und warum bieten Sie nicht eine Anhörung vor ausgewählten Mitgliedern Ihrer Kommission an, deren Ergebnisse ja fraglos hinterher der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden können? Gab es nicht schon genug Skandal, der – da haben Sie Recht – viele Journalisten anspricht, aber bislang nur beschränkt zum Verstehen blinder Flecken in der Debatte beitrug?

3. In sechs Punkten verurteilen Sie Hartmut von Hentig uneingeschränkt („Das Selbstrechtfertigungsdokument Hartmut von Hentigs ist ein repräsentatives Dokument für die noch immer gesellschaftlich akzeptierte Strategie des Verschweigens, der Verleugnung und Tabuisierung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“), dass schwer vorstellbar ist, wo für Hartmut von Hentig bei einer Anhörung überhaupt noch Raum sein soll, wenn selbst jene Passagen in seinem umfangreichen Buch von fast 1400 Seiten, in denen er auch Irrtümer, Fehler und Versagen einräumt, von Ihnen bislang nicht einmal wahrgenommen wurden?

Als die erste vernichtende Rezension der ZEIT am 21. April noch vor Veröffentlichung des Buches erschien, habe ich umgehend mit einer Stellungnahme aus Kapstadt geantwortet, die jedoch weder von der ZEIT noch der FR angenommen wurde (den vollständigen Text finden Interessierte im Medientagebuch #Warum es so leicht ist, Hartmut von Hentig zu verurteilen). Es geht mir hier nicht darum, unbedingt selbst aus der Ferne Südafrikas an dieser Diskussion teilzunehmen, sondern mir ist wichtig, dass sich die „Verurteiler“ es sich – mit der richtigen Moral auf ihrer Seite – nicht zu leichtmachen und damit gerade das notwendig tiefere Verstehen, wie es immer wieder zu Missbrauchssituationen kommt, verspielt wird. Dies bedeutet vor allem Verrat an den Opfern – den damaligen, heutigen und den zukünftigen. Bei Ihnen in Deutschland und bei uns in Südafrika.

Ich werde Hartmut von Hentig Mitte Juli in Berlin treffen und würde mich über eine Antwort von Ihnen vor dem 9. Juli freuen, auch um persönlich raten zu können (was nach Ihrem bisherigen Text nicht einfach möglich ist). Persönlich bin ich dem wamiki Verlag dankbar, dass dort der Mut vorhanden war, den Diskurs auch kontrovers weiter zu führen. Ob dies jemals mit materiellem Gewinn einher geht, ist derzeit eher fraglich, wodurch Ihre 3. Forderung eher zynisch bei dem jungen und bislang für seine Progressivität von niemandem in Frage gestellten kleinen Verlag ankommen muss.

Der Arbeit Ihrer Kommission wünsche ich weiter viel Erfolg beim Erreichen und Unterstützen bisheriger Opfer, aber auch Mut zur Kontroverse und dem Einklagen der Bewusstwerdung von blinden Flecken bei allen Beteiligten. Nur so verstehe ich auch mein ausführliches Mail an Sie von heute.

Mit freundlichem Gruß (derzeit aus Amsterdam auf einer Lesetour in Holland, Österreich, Polen und Deutschland),

Lutz van Dijk

Dr. Lutz van Dijk
www.hokisa.co.za
www.lutzvandijk.co.za

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