# Was hättest du getan? Für alle, die selbst denken wollen

„Bewusst und ohne Skrupel“ – das von BENJAMIN ORTMEYER in der „Jüdischen Allgemeine“ vom 8.März 2018 komplett aus dem Kontext gerissene Zitat löste u.a. vor zehn Jahren eine Diskussion zwischen Hartmut von Hentig und  Schülerinnen und Schülern im Ethikkurs der Laborschule aus.  Allen, die selbst lesen und denken wollen, sei die folgende Leseprobe empfohlen. Beim Thema „Tod“ lauteten die dringlichsten Fragen  der 15-bis 17jährigen an Hentig: „Du warst im Krieg. Hast du jemanden getötet? Was hast du damals empfunden? Was denkst du heute darüber?“ Ein Auszug aus: „Noch immer Mein Leben“, Seite 59 ff. Der Autor Hentig schreibt: … Ich durfte tun, was ich in der Schule stets am liebsten getan habe – mit Kindern oder jungen Menschen philosophieren … In jedem Halbjahr begann der Kurs mit einer Aussprache über das Thema, dem man sich widmen wollte. Verblüffender Weise war „Der Tod“ das erste Thema, auf das sich die Schülerinnen und Schüler einigten. Es stellte sich heraus, dass fast alle schon einmal den Tod einer mehr oder weniger nahestehenden Person erlebt hatten, dass aber fast niemand je mit ihnen darüber geredet hatte. Nun wollten sie es, wussten aber nicht wie – und beschlossen erst einmal „zu den Toten“ zu gehen. Sie besuchten die Friedhöfe der Stadt – die Grabstätten von Angehörigen verschiedener Religionen – und versuchten sich ein Bild davon zu machen, was „die Menschen“ sich unter Tod, unter dem, was nach dem Leben kommt, vorstellen. Das löste ihnen die Zunge. Sie prüften die eigenen Vorstellungen; sie setzten diese in ein Verhältnis zu denen ihrer Religion; sie verstrickten sich in die Fragen des Freitods und der Sterbehilfe, der Todesstrafe und des Kriegsdienstes und hätten noch ein weiteres halbes Jahr weiterreden, weiterstreiten, weiterlernen mögen.

In den Jahren 2008 und 2009 war ich alle sechs Wochen zu Gast bei dem stets 20 Schülerinnen und Schüler zählenden Kurs. Zwei Wochen vorher bekam ich die Protokolle der bis dahin abgehaltenen Doppelstunden, konnte also sehen, wie und wohin sich der Gedankenstrom bewegte. Die unmittelbar voraufgehenden Stunden wurden für mich von einem dafür volontierenden Schüler mündlich zusammengefasst. Meist hatte man sich bestimmte Fragen für mich ausgedacht. Beim Thema „Tod“ lauteten die dringlichsten Fragen: „Du warst im Krieg. Hast du jemanden getötet? Was hast du damals empfunden? Was denkst du heute darüber?“ Ich habe ihnen mit dem geantwortet, was in Band I auf den Seiten 191 bis 193 meiner Erinnerungen steht – mit der Schilderung eines Angriffs der Russen auf unsere Vorderhangstellung im Jahre 1944 – und da abgebrochen, wo es heißt: „Ich schieße, und sie fallen. Ich habe Menschen getötet – dieses eine Mal in meinem Leben bewusst und ohne Skrupel.“

Dieser Satz machte meine Gesprächspartner fassungslos. Nun wiederholten sie ihre letzte Frage. Ich sagte: „Schon damals hat mich die ‚Selbstverständlichkeit‘ verstört, mit der ich mein Maschinengewehr bedient und mein und meiner Kameraden Leben damit verteidigt habe. Ich erinnere mich an diesen Augenblick meines Soldatenseins ja deshalb so deutlich und habe, als ich ihn in meinen Erinnerungen wiedergab, mit den Worten ‚bewusst und ohne Skrupel‘ versehen. In einer solchen Lage ‚denkt‘ man nicht, jedenfalls nicht so, wie wir es jetzt tun. Aber ich hatte vorher – in eurem Alter – viel darüber nachgedacht mit dem Ergebnis: ‚Ich will nicht töten, aber ich werde töten müssen.‘ Ein Ergebnis, das einen hundselend macht. Ein unentrinnbares Ergebnis! Ein Ergebnis, das unter einem anderen Titel besprochen werden muss: unter Schuld oder unter Freiheit oder eben unter Krieg.“ Ich erzählte, wie ich mich – in vorderster Front liegend – freute, wenn uns die deutsche 
Artillerie mit einem halbstündigen Trommelfeuer für ein paar Tage Ruhe verschaffte. „Trommelfeuer“ – ein fast lustiges, ein vorlautes Wort für eine fürchterliche Sache. Ich war selbst in der Bedienung von Mörsern ausgebildet worden; man berechnet die indirekte Flugbahn der Granate; man stellt das Gerät entsprechend ein; man sieht den Feind nicht, den man tötet. Hätte ich meine Mörser-Kunst anwenden müssen, ich wäre nicht so leicht „ohne Skrupel“ davongekommen wie in der Todesangst vor den in Scharen und schießend heranstürmenden Russen.

Mit diesen Mitteilungen wollte ich mich nicht vor den Schülern rechtfertigen; ich konnte es nicht – jetzt so wenig wie 1944. Aber ich wollte verständlich machen, was dem Achtzehnjährigen damals geschah. Ich wollte auch darauf aufmerksam machen, wie wir an der Oberfläche leben und wie uns erst das Nachdenken darüber in die Abgründe sehen lässt. „Alles Leben ist Raub“ – diesen Satz von Friedrich Hebbel hat damals ein älterer Freund in mein Denken eingepflanzt. Ich war mit den Schülern und Schülerinnen barmherziger als er, ließ meine Gedichtsammlung aus der Laborschulbibliothek holen und las das „Kriegslied“ des Matthias Claudius vor:

Kriegslied

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

… Ich las das Gedicht, wie ich Gedichte immer lese, zweimal. Man schwieg. Ein kluges Mädchen sagte nach einer Weile, was wohl alle ähnlich dachten: „Du hättest also den Krieg verhindern müssen, damit du nicht töten musst.“ Ein Schüler: „Auch wir verhindern keine Kriege!“ Ein anderer Schüler: „Wir töten schon ohne Krieg.“ „Im Straßenverkehr zum Beispiel.“ „Oder durch Luftverschmutzung, die über den Klimawandel in Abessinien oder Birma als Dürre oder Flut ankommt.“ „Nun sag nur noch, dass ich ein ‚Mörder‘ bin, weil ich beide Nieren behalte!“ „Töten und den Tod nicht vermeiden ist zweierlei.“ – So ging das eindrucksvoll weiter hin und her.
Am Ende, als die anderen Gruppen im Großraum der Laborschule schon auseinandergingen und Unruhe verbreiteten, bat ich jedes einzelne Kursmitglied, mir zu sagen, ob er oder sie an meiner Stelle geschossen hätte oder nicht. Die Hälfte sagte: „Ich weiß nicht“, die andere Hälfte sagte: „Ich hätte auch geschossen.“ Einer sagte: „Du hättest in die Luft schießen können.“ „Damit hast du recht, aber dann hätte keiner meiner Kameraden überlebt – und ich säße nicht hier.“ …

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