# Hentig an den Pranger?
Notizen aus aufgeregter Umgebung

Chiang Mai, School for Life, Thailand, 19. Juli / 27. Juli / 30. Juli 2016/ 14.August 2016/ 7.Februar 2017/ 6. September 2017
PROF. EM. DR. JÜRGEN ZIMMER über:

I. JOCKELE, GANG DU VORAN!
Angst essen Seele auf

II. DIE JAGDGESELLSCHAFT
Im Netz
Oh, Adrian!
Spökenkieker
Kapitän Brachmann
Starke Worte
Keulenschwinger
Die Konvertiten

III. DIE EINEN UND DIE ANDEREN
Die Lotterie
Die Erkenntnisse des Hans Keilson
Kein Täter werden
Kurzer Traum
Ein mehrfaches Machtgefälle
Die Verteidigung des Verurteilten

IV. „DU HAST KEIN HERZ, JOHNNY…“
Eine Liebe mit Schlagseite
Eine Liebe über den Tod hinaus
Stellensucher oder: ein weites Panorama

V. NACHTRÄGE
Meinungsvielfalt und die Stellungnahme des Betroffenenrates
„Rashomon“ und Nachrichten aus der Zukunft
Die „Neue Sammlung“ und eine Fehlentscheidung
Mädchen und Missbrauch
Kleine Blütenlese aus „Jeder Missbrauch hat Mitwisser“
Antjes Rorschachtest

 

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I. JOCKELE, GANG DU VORAN!

Angst essen Seele auf

Am 23. September 2015, dem 90. Geburtstag Hartmut von Hentigs, wurde ihm eine Tabula Gratulatoria überreicht. Der kurze Text: „Wir gratulieren dem Freund und Kollegen, Lehrer und großen Anreger.“

Meine Frau Birzana und ich haben zusammen mit mehr als 400 Menschen, darunter kulturpolitische, kulturelle und erziehungswissenschaftliche Prominenz, unterschrieben. Am 25. September 2015 teilten die Initiatoren der Aktion ihre Vermutung mit, „dass nicht alle Gratulantinnen und Gratulanten damit einverstanden wären, wenn wir ihre Liste öffentlich machen würden, beziehungsweise sie in die Öffentlichkeit gerieten…“.

Die Initiatoren wollen deshalb keine Kopie der ganzen Liste zuschicken. „Wir hoffen, Sie haben Verständnis dafür.“

Je nun, nicht so richtig.

Angst essen Seele auf.

Wo sind sie, die glühenden Anhänger Hentig’scher Pädagogik? Gibt es sie nicht mehr, weil es den Unhold Gerold Becker gab und Hentig ihn geliebt hat und vielleicht immer noch liebt? Ist dadurch die Hentig’sche Pädagogik nichts mehr wert? Was für ein Unsinn.

Am 22. Juni 2016 formulierten Lutz van Dijk und ich einen Brief, in dem wir die Kolleginnen und Kollegen freundlich einluden, aus der Deckung herauszukommen, um sich an einem facettenreichen und differenzierenden Dialog zu beteiligen und sich nicht – dem Motto folgend: „Jockele, gang du voran!“ – hinten am Spieß zu drängeln.

Hier der Text des kurzen Schreibens:

„Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor wenigen Tagen erschien das Buch ‚Noch immer Mein Leben’ von Hartmut von Hentig. Schon im Vorfeld konnten wir beobachten:

  • Hass, der sich nun auf Hartmut von Hentig konzentriert, nachdem es Gerold Becker nicht mehr gibt;
  • eine Art mediale Einheitsfront der Verdammung des Buches, bevor es überhaupt erschienen ist;
  • das Abtauchen einiger Vertreter der pädagogischen Zunft, die zuvor Anhänger der Schriften und der pädagogischen Praxis Hartmut von Hentigs waren und nun möglicherweise von der Sorge geplagt werden, Attacken aus der Öffentlichkeit oder aus den eigenen Reihen zu erleben.

Wir sind – nach dem Studium des Buches, vieler sonstiger Dokumente und auf der Grundlage von Gesprächen mit Hartmut von Hentig – der Auffassung, dass er weder Mitwisser noch indirekter Mittäter war, dass er in krasser und ungerechtfertigter Weise an den Pranger gestellt wird. Es wird Zeit, dagegen zu halten und einen differenzierenden Dialog zu eröffnen.

‚Dagegen halten’ bedeutet: Schattierungen zu erkennen und Schwarzweißmalereien zu vermeiden. Den ‚Dialog zu eröffnen’ meint, ihn auch öffentlich und nicht im privaten Raum zu führen. Es ist unser Wunsch, auch in Bezug auf Pädophilie und Pädagogik eine neue wissenschaftsgestützte Qualität der Diskussion herzustellen, die blinde Flecken benennt und aktuelle Erkenntnisse der Sexualforschung einbezieht, die Kinder und Jugendliche besser schützt und pädophil orientierten Menschen Lebenshilfe anbietet.“

 

 II. DIE JAGDGESELLSCHAFT

Im Netz

Als es Willy Brandt in der Regierung nicht mehr so gut ging, trat ich aus Sympathie mit ihm für eine Weile der SPD bei. Im Vorstand des Münchner Ortsvereins Hasenbergl-Nord bedauerte ich, dass die CSU-Basis viel besser vernetzt war. Auf Bundesebene, in einer Arbeitsgemeinschaft der SPD für Bildungsangelegenheiten, fand ich die Mitglieder aus Nordrhein-Westfalen besonders gut vernetzt. Gegen deren Ticketbildungen war bei Wahlen schwer anzukommen. Mein Schwager Muzzamil in Jakarta, einer der Gründer der Partei für Gerechtigkeit und Wohlstand (PKS), deren Mitglieder sich – dem Himmel sei gedankt – mehrheitlich gerade von „Fundis“ zu „Realos“ entwickeln, ist außerordentlich gut vernetzt, genau so wie Nurul, seine Frau, die als langjährige Präsidentin der Frauenorganisation Salimah über ein Netz von etwa 10.000 Moderatorinnen verfügte. Und als ich in Berlin einige Jahre lang Studierende der Sozialpädagogik auf eine niedrigschwellige Arbeit mit ihren Klienten im Untergrund der Stadt vorbereitete, fanden wir, dass die Berliner Halbwelt auch gut vernetzt war.

Jürgen Oelkers hat nun mit „Pädagogik, Elite, Missbrauch“ ein Buch zum Thema Vernetzung vorgelegt, das auf 600 Seiten die Verflechtungen Gerold Beckers schildert: detailliert recherchiert, zahlreiche Quellen einbeziehend, ein informationsreiches Werk. Oelkers hat dafür vier Jahre seines (ebenfalls nur einmaligen) Lebens hergegeben. Deshalb und zunächst: Hut ab. Becker war ein begabter Netzwerker. Es waren seine Anerkennungs- und Tarnnetze zugleich.

In mancher empirischen Forschung wird eine ziemlich plausible Hypothese mit großem methodischen Aufwand untersucht – mit einem Ergebnis, das der plausiblen Hypothese entspricht. Mir geht es bei der Lektüre von Oelkers’ Buch ein bisschen ähnlich: Dass Becker gut vernetzt war,  wussten wir schon vorher; jetzt wissen wir es detaillierter; aber da es unmöglich ist, alle Details aus Oelkers’ Buch im Kopf zu behalten, verschwimmt die überbordende Menge an Einzelheiten, und übrig bleibt: der anerkannte gute Mensch und der Kriminelle Becker war wirklich gut vernetzt, nicht nur mit einigen Mittätern, sondern auch mit Menschen wie dir oder mir. Auch, und gar nicht so flüchtig, mit Jürgen Oelkers, der mit dem „Hochstapler“ und „Pädokriminellen“ beim Aufbau einer Pädagogischen Fakultät zusammengearbeitet hat.

Einiges eint uns Menschen in Beckers Netzwerk: Erstens, wir wussten Jahre lang nichts von seinen Verbrechen; zweitens, als wir 1999 zum ersten Mal Hinweise bekamen, haben wir nicht für möglich gehalten, dass es neben Dr. Jekyll auch Mr. Hyde geben sollte; drittens, als ab 2010 nicht mehr daran zu rütteln war, waren wir schockiert. Und, nostra culpa: 1999 hätten wir viel intensiver nachfragen müssen.

Ich finde es fair von Jürgen Oelkers, dass er im Blick auf das verzweigte Netz nicht an einem Verdikt namens ‚Sippenhaft’ strickt, sondern sich auf sein lang anhaltendes Erstaunen konzentriert, wie es sein kann, dass ein Wiederholungstäter so lange ungeschoren davonkommen konnte.

In eine Schieflage gerät das Buch dort, wo der Eindruck erweckt wird, Becker habe seine Anerkennung nur gesucht und gefunden, um seine dunkle Seite besser verbergen zu können. Auch wenn Becker heterosexuell gewesen wäre, wäre er vermutlich gern anerkannt worden, wie viele andere Menschen auch.

Dort, wo bei Oelkers die Recherche aufhört, fängt gern die Wähnung an. Denn ein Loch ist, mit Tucholsky, da, wo etwas nicht ist: Oelkers hat bei Hartmut von Hentig nie nachgefragt oder um Einsicht in die Quellen gebeten. Er hat um Hentig herum recherchiert. Und da werden Stationen im Leben Beckers zu Fluchten und Vernebelungsversuchen ausgedeutet, ohne die Unterlagen zu prüfen, die ein anderes Bild ergeben hätten. Bei der Lektüre lande ich auf Seite 262: Ich hätte im Januar 2011 die Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule kommentiert, ohne meine Beziehung zu Becker zu erwähnen: „In dem Interview ist die Rede von einem ‚Kartell des Schweigens’, aber über die Person des Täters wird kein Wort verloren. ‚Die Täter’ werden abstrakt angesprochen: Zimmer fragt sich, wie sie dazu werden konnten und was da in der Biographie passiert ist, nicht wie Gerold Becker zum Täter wurde und es geschafft hat, im Umfeld nie aufzufallen.“ Das, lieber Kollege Oelkers, kam so: Erstens habe ich mich über meine Beziehung zu Gerold Becker schon im März 2010 geäußert. Das damals ins Netz gestellte Dossier befindet sich in diesem Blog (und zwar hier); zweitens wurde das Interview in der Druckfassung des FU-Journals „Campusleben“ aus Platzgründen arg zusammengestrichen; und drittens ging es nicht nur um die Odenwaldschule, sondern auch um das Canisius-Kolleg. Eine bemühte Ausklammerung Beckers? Von wegen. Nicht zureichend recherchiert, nicht bei mir nachgefragt, einfach so behauptet, um die Wähnung vom Wegzaubern Beckers zu illustrieren.

Nun findet Oelkers es irritierend, dass der kriminelle Becker ohne formale pädagogische Qualifikation die Leitung der Odenwaldschule übernehmen konnte. Ein ‚Pädagoge’ ohne erziehungswissenschaftliche Qualifikation kann keiner sein. Nun, ich kenne Erziehungswissenschaftler, die nicht mal mit ihren eigenen Kindern klarkommen, und ich erinnere mich an Lehramtsprüfungen, in denen pädagogische Restbestände abgefragt wurden und ich dem mit prüfenden Kollegen Didaktiker bei so spannenden Fragen zuhören musste, wie man unter Anwendung der Didaktik von Heymann, Otto, Schulz einen Drachen bauen kann. Und was ist mit Anton Semjonowitsch Makarenko, Paulo Freire, Kurt Hahn oder Georg Picht? Formal zureichend qualifiziert? Aus dem langen Marsch durch die pädagogischen Institutionen wären sie wohl ausgerissen.

Oelkers nicht. Er hat den Marsch durchgehalten: vom Schüler zum Studenten, vom Studenten zum Assistenten, von dieser zu jener Professur. Die Langeweile auf gediegenem Niveau, die sich bei der Lektüre seines Buches gelegentlich einstellt, hängt mit dem Leben eines verdienten Professors zusammen, der sich nie auf das manchmal nur halb zu beherrschende Chaos einer Pädagogik unter realen Bedingungen einlassen musste, der nichts von sich selber mitteilen kann, sondern nur, versteckt hinter dem Wandschirm „Objektivität“, über andere schreiben will – hier: über das Netz.

Beim Lesen bin ich mitunter über Varianten des Begriffes „ideologisch“ gestolpert, mit dem Oelkers Positionen bezeichnet, die er nicht teilt. Beim Begriff „linksliberal“ hat man den Eindruck, dass Oelkers ihn mit spitzen Fingern anfasst. Was ist er selbst? Objektiv? Konservativ? Auch er konstruiert schließlich seine subjektiven Zugänge zur Wirklichkeit.

Als Gerold Becker der Odenwaldschule gewahr wurde, müssen ihm schon im Vorfeld alle Sicherungen durchgebrannt sein.

Hamed Abdel-Samad schreibt in seiner Biografie „Mein Abschied vom Himmel“ über eigene pädophile Anwandlungen, er beschreibt, wie er, erschrocken über sich selbst, alle Versuchungen künftig zu vermeiden trachtet. Nicht so Becker. Er hat sich sein Aktionsfeld sorgfältig zubereitet: Die Kapitel über den Tatort, die Opfer und die Untaten Beckers gehören zu den beeindruckenden Teilen der Untersuchung von Oelkers. Mit einer psychodynamischen, viktimologischen Analyse des Täters indessen befasst er sich nicht, das Innenleben des Täters ist für den Autor eine ‚black box’.

Nach der Lektüre bleiben viele Fragen übrig: Wie lassen sich Verbrechen des Kindesmissbrauchs in Umfeldern, in denen sich Kinder befinden – in Familien, Nachbarschaften, Kindertagesstätten, Schulen und Internaten, Sport-und Freizeitvereinen – künftig wirksamer verhindern? Auch dann, wenn es sich um hochintelligente Täter handelt? Und wie kann man Pädophilen, die keine Täter werden wollen, wirksamer helfen? Man kann Oelkers’ Darstellung des Geschehens als detaillierte Situationsanalyse lesen und auf ihrer Grundlage viele Schlussfolgerungen über besseren Schutz der Kinderrechte ableiten. Bei Jürgen Oelkers kommt es nicht dazu. Er bleibt Beobachter, der nichts darüber mitzuteilen hat, was uns diese Ereignisse lehren.

 

Oh, Adrian!

„Frostschutz, die Interessengemeinschaft zur Aufbereitung der Verbrechen an der Odenwaldschule“: eine Initiative von zentraler Bedeutung, keine Frage.

Dass „Frostschutz“ am 10. Mai 2016 eine Presseerklärung herausgibt, in der die Einschätzung der Rolle Hartmut von Hentigs ganz anders ist als die einiger anderer Menschen: Okay, so ist Meinungsvielfalt.

Aber nun schreibt Adrian Koerfer als Autor dieser Presseerklärung: „’wamiki’ heißt der Verlag, in dem von Hentig sich nun offenbar zu veröffentlichen genötigt sieht. ‚Wamiki’ heißt ausgeschrieben: ‚was mit Kindern’. War da nicht was? Hatten nicht Gerold Ummo Becker und seine schrecklichen Konsorten umgangssprachlich ‚was mit Kindern’?“

Aua. Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte: Nach der Wende war die von der wamiki-Verlegerin Eva Grüber mitgegründete Zeitschrift klein&groß das pfiffigste Journal im Bereich einer Pädagogik der frühen und mittleren Kindheit. klein&groß wurde von Luchterhand an Beltz verhökert. Eva Grüber gründete in Berlin mit einem Thüringer Geschäftspartner den Verlag das Netz und brachte eine neue Zeitschrift heraus: Betrifft KINDER, wieder ein Journal, das mit pädagogischen Betulichkeiten aufräumte. Später gab es Krach mit dem Mitgesellschafter, das Vertrauen kam abhanden und das Berliner Team votierte für einen Neuanfang, Eva Grüber verkaufte ihre Anteile und gründete mit Tochter und langjährigen Mitstreitern abermals einen Verlag, diesmal wamiki. Die gleichnamige Zeitschrift, unkonventionell und erstklassig, wurde gerade für das beste Design ausgezeichnet, zusammen mit den Magazinen der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT.

Lieber Adrian Koerfer: Den Verlag in die Nähe eines Pädophilen-Verlages zu assoziieren, ist abwegig.

Und nun noch eine Anregung für Jura-Klausuren: Am 31. Mai, da ist das Buch von Hentig noch gar nicht da, schreibt Adrian Koerfer an wamiki: „… muss ich leider versuchen, die ganz offenbar widerliche beschönigende und allein auf Selbstschutz ausgelegte Schmutz-und Schmähschrift des Herrn von Hentig vor der Auslieferung zu verhindern. Das, obwohl ich naturgemäß ein Verfechter der Presse-und Meinungsfreiheit bin.“

Was denn nun: Freiheit des Wortes oder eher nicht?

Thema der Klausurarbeit ungefähr so: Wie man eine einstweilige Verfügung erwirkt, ohne das Buch, das auf den Index soll, gelesen zu haben.

Daniel, Adrians Bruder, kenne ich seit langem. Wir gingen als Jugendliche im Haus von Antoinette und Hellmut Becker ein und aus. Später, als Väter, waren wir mit anderen Mitstreitern damit befasst, die International School Berlin-Potsdam vor der Insolvenz zu bewahren und zu neuem Leben zu erwecken.

 

Spökenkieker

Die ersten Buchexemplare „Noch immer Mein Leben“ wurden aus der Druckerei am 31. Mai 2016 an den Zwischenhändler verschickt, dort sind sie am 1.Juni angekommen. Sie wurden gezählt, eingebucht und anschließend an den Buchhandel und Amazon ausgeliefert. Vorausgesetzt, die Post oder andere Versender arbeiteten blitzartig, könnte ein Kunde das Buch mit 1392 Seiten allerfrühestens am 2. oder 3. Juni in den Händen halten.

Amazon pflegt die Sparte „Top-Kundenrezensionen“. Am 1.Juni schreibt „Peter Braun“ einen Verriss, der ganz locker so daherkommt, als habe „Peter Braun“ das Buch gelesen („…Hentig … gelingt es auch hier nicht, sich angemessen zu distanzieren …“)

Am 5. Juni legt „Hans Owes“, der mit annähernder Lichtgeschwindigkeit die Lektüre bewältigt hat, nach: Es sei „der verzweifelte, ja fast lächerliche Versuch von Hentigs, sich zu rechtfertigen“.

„Braun“ und „Owes“: zwei unterbelichtete Hellseher.

 

Kapitän Brachmann

Der Kapitän Brachmann tuckert in der morgendlichen Dämmerung bis in die Mitte des mississippibreiten Mainstream, wirft den Anker, schaut sich um, bemerkt, dass er allein ist, freut sich darüber und richtet seine Kanone aus. Er will ein Schnell-Schießer sein. Der große Schuss ist für den 9. Juni geplant. Ein Schnell-Leser ist Kapitän Brachmann gewiss auch. Das Buch, für dessen 1392 Seiten ich zwei Wochen gebraucht habe, hat er vielleicht drei bis vier Tage vor dem großen Schuss in die Hand bekommen. Und nun weiß er schon alles.

Lesen Sie hier seine Stellungnahme.

Kapitän Brachmann richtet also seine Kanone aus, stopft sie mit Pulver und einer dicken Kugel, zielt – wohin nur Kapitän? – und zündet die Lunte. Ein gewaltiger „Bumms“ hallt über den Strom. Der Rückstoß ist enorm. Er erinnert mich an eine alte Akha-Frau, die mir, es wird 1986 gewesen sein, in den Bergen Nordthailands zeigen wollte, wie man mit einem Vorderlader bewaffnet ein Kaninchen jagt. Als wir endlich eins sahen, legte sie an, drückte ab und fiel fast nach hinten um, während der Rückstoß den Lauf des Gewehres nach oben riss und das Kaninchen erschrocken davonhoppelte.

Kapitän Brachmann nimmt sein Fernglas und beobachtet, wie im dicken Pulverdampf Fetzen durch die Luft fliegen: „… und noch immer nicht kritisch reflektierten Loyalität zu seinem Freund …“ „… auf fatale Weise das verbrecherische Handeln …“ „… als einvernehmliche Liebesbeziehung …“ „… Betroffenen … Mitverantwortung für diese Übergriffe…“ „… Becker als unschuldiges Opfer …  darstellt …“

Was da durch die Luft wirbelt, erkennt Kapitän Brachmann als seine Botschaft; nicht schlecht, denkt er, irgendwie gut formuliert, irgendwie gut ausgedacht (denn nichts davon steht so in dem Buch).

Nur: den Bösewicht Hentig sieht er nicht, der Qualm ist noch zu dick und deshalb beschließt Kapitän Brachmann, den Delinquenten vor ein öffentliches Tribunal seiner Kommission zu holen. Vorher den Stab gebrochen und hinterher noch angehört? Da fällt mir noch etwas ein: Wolfgang Leonhards Buch: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ Selbstkritik coram publico und den Kopf gesenkt halten.

Als sich endlich der Pulverdampf verzogen hat und auf dem Mainstream wieder klare Sicht herrscht, flattert ein einzelnes Blatt vom Himmel – direkt aufs Kanonendeck. Es ist ein Schreiben der Referentin für Presse-und Öffentlichkeitsarbeit dieser Kommission vom 13.Juli. Und darin steht: „Die Kommission hat sich in ihrer letzten Sitzung kurz über das neue Buch von Herrn von Hentig ausgetauscht, aber sie hat sich explizit entschieden, ihn nicht anhören zu wollen.“ Je nun, Kapitän, Morgenstund` fällt selbst hinein – oder so ähnlich.

 

Starke Worte

…“sind erbost“, „fassungslos“, „verklärt den Missbrauch“, „eine monströs-hässliche Welt schöngeschrieben“, „perfide Argumentation“, „infame Beschreibung“, „vor Wut zittern“, „widerliche Gedankenspiele“…

Hallo, Kollegen, wen bekämpfen wir denn da? Nur den Gottseibeiuns Hentig oder auch unsere eigenen kleinen dunklen Triebe und Leichen im Keller?

 

Keulenschwinger

Einige Donald Trumps in der Debatte schwingen die ganz große Keule. Wenn ich lese, es ginge „diesen Leuten“ (gemeint: Hentig &Co) „überhaupt nicht um Kinder, sondern um die eigene Haut, die eigene Macht, die eigene Anerkennung“, dann finde ich Wendungen wie „überhaupt nicht“ und „nur“ ungefähr so erkenntnisfördernd wie den Begriff „total“ im Zwischenruf einer gerade referierenden Studentin in einem meiner Seminare der 1980er Jahre: „Du nervst mich total, du Weichei!“. Gemeint: Ein strickender, sanftmütiger Student.

Es kann durchaus was dran sein an der Sache mit der eigenen Haut, Macht und Anerkennung, nur: Im Fall Hartmut von Hentigs ist das ziemlich „nebbe die Kapp“. Ihm geht es sehr wohl um Kinder und um Kindeswohl; und der eigenen Haut muss er sich angesichts der Verdammung irgendwie auch wehren. „Eigene Macht“ eines fast 91jährigen Pensionärs? Er ist nicht der Boss einer japanischen Familiendynastie. „Eigene Anerkennung?“ Bei dem Spießrutenlaufen? Nein: Eine faire Behandlung wäre angesagt.

Weiter: „Diese Pädophilie-Debatte ist doch absurd, es geht um Machtmissbrauch auf vielen Ebenen. Gerold Becker und die Vertuscher lassen sich nicht mit Pädophilie entschuldigen.“ Grübel. „Pädophilie entschuldigen“? Wer macht denn das? Pädophilie kann man weder beschuldigen noch entschuldigen. Sie ist da oder sie ist nicht da. “Machtmissbrauch auf vielen Ebenen“? Das kann man wohl sagen. Aber nun: Wie erkennen und verhindern wir ihn? Da sind konkrete Szenarien gefragt, nicht pauschale Attacken. Weg vom Stammtisch, hin zu Präventionsprojekten in allen Bereichen, die „at risk“ sind.

Und nun eine Keule, die nur von wirklichen Gutmenschen geschwungen wird: „Das System funktionierte, weil alle mitmachten. Ein Übel war und sind die Gläubigen, die den Superstars in Kirche und Reformschulen mehr oder weniger bedingungslos folgten. Mitschuldig machten sich alle, die zuschauten, ihnen nicht Einhalt geboten oder sie gar noch tatkräftig unterstützten und sich zum Sprachrohr machten.“ Richtig; wenn mit „alle“ auch die Keulenschwinger gemeint sind, dann: herein ins Boot der Sünder! Hier wird übrigens etwas übersehen: dass wir in den letzten Jahren viel gelernt haben. Dass nicht irgendjemand aus dieser „learning society“ sofort intervenieren würde, wenn auch nur der Anfangsverdacht auf Missbrauch aufkäme, war damals nicht vorstellbar. Nach dem Tsunami in Thailand oder Indonesien wussten alle, an welchen Vorzeichen man ihn erkennen kann; im Dezember 2004 jedoch vergnügten sich die Urlauber unbedarft an dem zappelnden Getier, das zurückblieb, als das Wasser vom Ufer abzog und am fernen Horizont die weiße Gischt noch wie ein Strich wirkte.

Keine Keule, aber ein leicht apodiktischer Satz: „Die Kinder haben nach wie vor keine Stimme, die Kinder von damals wie heute machen immer wieder die Erfahrung, dass ihnen nicht geglaubt wird.“ Die Richtung der Aussage stimmt: zuhören, zuhören, zuhören, lieber Hartmut von Hentig! Lassen Sie sich nicht durch die Attacken und Emotionen einiger Opfer davon abbringen, den anderen gesprächsbereiten ehemaligen OSO-Schülern, die durch Gerold Becker ihr Trauma erlitten haben, zuzuhören, sie zu verstehen und ihnen beizustehen, solange es Ihre Kräfte noch erlauben!

 

Die Konvertiten

Als Josef Müller-Marein, Chefredakteur der ZEIT, mir Anfang der 1960er Jahre beibrachte, wie man Bildunterschriften formuliert, als Manfred Sack mich in der Kunst des Redigierens unterwies und Ortwin Fink mir erklärte, was ein ‚Aufhänger’ ist, traf ich auch auf Rudolf Walter Leonhardt, den Feuilleton-Chef der ZEIT. Wir hielten Distanz.  Ich bewunderte die Eleganz seines Stils, aber ich mochte ihn nicht als Person, ein bisschen zu viel Porsche, Whisky und Frauen. Nun, das ist lange her; seinen 1969 in der ZEIT veröffentlichten Dreiteiler über „Unfug mit Unschuld und Unzucht“ hatte ich nicht mitbekommen:  Nach dem 2. Juni 1967 las ich die ZEIT seltener, sie war mir zu altbacken geworden.

2013 wurde der Beitrag Leonhardts wieder ausgegraben, und die ZEIT- Redaktion räumte ein, dass damals mehrere ZEIT-Autoren die Pädophilie verharmlost und die Handlungen Pädophiler bei Ausschluss von Gewaltanwendung nicht der Strafverfolgung aussetzen wollten. Theo Sommer, 1969 stellvertretender Chefredakteur, hat in seinem Rückblick 2013 betont, niemals sei die ZEIT als Blatt für Pädophilie eingetreten.

Diese Geschichte der ZEIT ist nun kein Grund, das Pendel bis zum Anschlag in die andere Richtung schwingen zu lassen. Die gegenwärtige ZEIT-Generation scheint alles zu vermeiden, was in irgendeiner Weise an die damaligen Auffassungen erinnern könnte. Und was daran erinnern könnte, dass Hartmut von Hentig jahrzehntelang gefeiert wurde, um nun – ohne ausreichende Recherche – zur Unperson erklärt zu werden. Da darf Bernhard Pörksen einen zweiseitigen Verriss des Hentig-Buches schreiben und zwischendurch nach Luft schnappen, während man sich über Wochen windet, eine qualifizierte Gegenrezension ins Blatt zu rücken. Am Schluss des Pirouettentanzes dann: freundliche Ablehnung – man habe zudem eine andere Autorin gebeten, sich mit der Reformpädagogik auseinanderzusetzen.  Ich ahne, was und wie sie schreiben wird.

Die Konvertiten der neuen ZEIT-Generation lassen bei diesem Thema keine Diskussion mehr zu, die die Leser in Aufregung versetzen könnte, sie paddeln im Mainstream.

 

III. DIE EINEN UND DIE ANDEREN

Die Lotterie

Die sexuelle Orientierung entwickelt sich unter dem Einfluss von biologischen und psychosozialen Faktoren in der Pubertät. Die sexuelle Orientierung geschieht und ist keine Frage der Wahl; sie ist wie eine Lotterie der Natur. Heterosexuelle haben, was die gesellschaftliche Akzeptanz angeht, das beste Los gezogen, auch wenn in der Bundesrepublik die Zeiten noch nicht so lange zurückliegen, in denen liberale Eltern, die die erste Liebe ihrer Halbwüchsigen tolerierten, mit dem Kuppeleiparagrafen bedroht wurden. Homosexualität? Heute akzeptiert, jedenfalls bei uns. Gleichwohl ist es für Jugendliche immer noch ein Akt der Selbstüberwindung, ihren Eltern mitzuteilen, dass sie schwul oder lesbisch sind, weil die Eltern schockiert reagieren könnten.

Ein Jugendlicher, der pädophile Neigungen spürt, hat das mieseste Los der Naturlotterie erwischt. Es ist wie das Urteil „lebenslänglich“: Er wird Zeit seines Lebens ein Pädophiler sein und bleiben. Nun gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die erste lautet: lebenslange Askese und Verhaltenskontrolle. Die zweite: kriminelles Handeln, um die Pädophilie ausleben zu können. Man stelle sich vor, Heterosexuelle müssten zwischen diesen Alternativen wählen, um nachzuvollziehen, welcher Triebstau sich da bildet.

Wenn klar ist, dass Pädophile nicht die Wahl haben, ob sie pädophil sind oder nicht; wenn lesbische Töchter sich die Ohren zuhalten angesichts hysterischer Attacken ihrer Mütter, die sie doch noch auf den rechten heterosexuellen Weg (samt Ehemann und Kinderkriegen) schubsen wollen; wenn Väter vergeblich auf schwule Söhne einreden und deren Schwulsein als vorübergehendes Pubertätsphänomen weg zu definieren versuchen; wenn also klar ist, dass die sexuelle Orientierung so ist, wie sie ist, dann macht es keinen Sinn, einem pädophilen Jugendlichen (und späteren Erwachsenen) einzureden, er möge doch, verdammt noch mal, heterosexuell werden. Die sexuelle Orientierung sitzt fest. Es macht hingegen Sinn, mit kühlem Kopf an das Phänomen „Pädophilie“ heranzugehen, wie es der Sexualmediziner Klaus Michael Beier an der Berliner Charité fordert, der dort das Projekt „Kein Täter werden“ ins Leben rief.

 

Die Erkenntnisse des Hans Keilson

Im März 2003 wurde in der Nähe von Chiang Mai/Nordthailand die School for Life gegründet – zunächst für AIDS-Waisen, später für Kinder „at risk“ von diskriminierten ethnischen Minderheiten. (http://school-for-life.org/chiangmai/ oder: www.school-for-life.org) Im Januar 2005, nachdem der Tsunami Teile der Küste Thailands verwüstet hatte, erhielt die School for Life einen Hilferuf aus dem Fischerdorf Namkem. Dort waren von 4000 Einwohnern etwa 1000 umgekommen, darunter mehr als 200 Kinder. Wir bildeten ein Team, machten uns auf den Weg in den Süden und versammelten überlebende, extrem traumatisierte und geschockte Kinder, von denen viele ihre Angehörigen verloren hatten, unter einem Baum. Wir improvisierten die „School for Life under the tree“ (http://school-for-life.org/chiangmai/bucher-und-filme), aus der dann die Beluga  School for Life (später: Hanseatic School for Life) entstand. Wir versuchten, den Kindern ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit zu geben und auf ihre Ängste einzugehen. Im Spiel boten wir ihnen den Rahmen für ein „acting out“ ihrer Ängste. Die School for Life im Süden sollte im Sinne der UNESCO eine „open learning community“ werden, ein kleines gelobtes Land unweit der Küste.

Ich war davon ausgegangen, dass die Albträume, die von haushohen Wellen bestimmten Bilder der Kinder, ihre Trauer über den Tod von Angehörigen oder ihre Angst vor weiteren Katastrophen auf das extreme Ereignis des Tsunami zurückzuführen seien.

Das war zunächst auch so. Wir konzentrierten uns deshalb auf den Umgang und die Verarbeitung dieses Traumas, unternahmen mit den Kindern eine „Reise der Verwunderung“ quer durch Thailand. Wir brachten – während der Bauzeit der Beluga School for Life – etwa 50 Kinder und zehn Erwachsene für ein Jahr in der School for Life in Chiang Mai unter, wo sie die Solidarität der 130 Kinder des Nordens erfahren konnten. Wir unterstützten die Kinder darin, ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln, offen mit den Geschehnissen umzugehen, zu trauern und loszulassen. Die Mönche vom nahen Tempel Pongkum meditierten mit den Kindern und erleichterten es ihnen, langsam wieder zu sich selbst zu finden und nicht ‚außer sich’ zu sein.

Es schien sich zum Guten zu wenden. Als die thai-amerikanische Professorin Dr. Wanpen Tirachinda eine Weile zur Beobachterin und Beraterin der School for Life wurde, schrieb sie:

„ I have met many people from different backgrounds who saw the children at the School for Life. These are some of their comments: ‚These are the happiest orphans I have ever met.’ ‚They are optimistic and talented.’ ‚They are creative.’ ‚They act in a sensitive and responsible manner.’ ‚ They share and help each other out.’ ‚They know that they are being loved.’

Some people believe that poor and disadvantaged children are victims of their cirumstances and that their existence should be secured in a way that provides for shelter  and food. We should do more than just ensure subsistence. These  children are not only victims but also survivors. We want  to support them in their effort of becoming contributing citizens.

We want to replace the label ‚under-privileged’ with the goal of ‚normality’-using love, trust, self confidence, aesthetics, and morale.“

Aber mit der Zeit stießen wir auf Vorgeschichten von den Kindern aus dem Süden wie auch aus dem Norden, die alles andere als normal waren: Gewalt in der Familie, Trunkenheit und Spielsucht des Vaters, HIV-infizierte Mütter in der Prostitution, sexueller Missbrauch von Mädchen, Vergewaltigung von Mädchen durch ältere Jungen, bitterste Armut, Kinderarbeit und Ausbeutung –  die ganze Palette einer Verletzung von Kinderrechten, die – nicht bei allen, aber bei vielen – das bisherige Leben mitbestimmte. Zwar war bei den Kindern des Südens der Tsunami der traumatische Kulminationspunkt, dem aber andere schwere Erlebnisse vorausgehen konnten.

Hans Keilson hat mit seiner Untersuchung über die „Sequentielle Traumatisierung“ (Gießen 2001) wichtige Erkenntnisse zu diesen ineinandergreifenden traumatischen Sequenzen geliefert. Am Beispiel von jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden verstand er Trauma als Prozess; das war und ist ein anderer Zugang zu beschädigten Biografien als das Konstrukt eines posttraumatischen Syndroms.

Nun wissen wir, dass die Schülerschaft in Internaten nicht nur, aber auch aus Kindern und Jugendlichen bestehen kann, die, wenn schon nicht extrem traumatisierende, wohl aber viele belastende Erlebnisse hinter sich hatten, bevor sie aufgenommen wurden. Der Tsunami der Odenwaldschule bestand aus der Täterschaft Beckers und anderer Pädophiler. Den Opfern ist nicht nur eine hohe materielle Entschädigung zuzuerkennen, sondern – denen, die dies wünschen – auch eine von Kassen anerkannte Psychotherapie. Und den Therapeuten ist zu wünschen, dass sie sich informierter und professioneller als in den vergangenen Jahrzehnten mit traumatischen Sequenzen befassen, die im Zweifelsfall nicht beim Missbrauch anfangen und enden, sondern den gesamten biografischen Prozess umfassen können.

In der School for Life Chiang Mai hing eine ganze Weile lang ein Kasten, in den Kinder Zettel einwerfen konnten. Der Kasten wurde von Siriporn, einer Vertrauensperson der Kinder, geleert. Siriporns Erkenntnis: Viele der Mädchen hatten, bevor sie zur School for Life kamen, Missbrauch erlitten. Nun gibt es dort keine ausgebildeten Therapeuten, die individuell helfen könnten. Aber man kann therapeutische Settings, ein heilendes Umfeld schaffen. Dort stehen oben an: das Recht auf Glück, neue Freundschaften zwischen Kindern und ein liebevolles Verhalten Erwachsener, die die Kinderrechte ohne Wenn und Aber respektieren. Wir setzen auch auf eine „peer education“: auf von jüngeren Kindern gewählte „Guardian Angels“, das sind ältere Kinder, die für das Wohl der jüngeren Kinder mitverantwortlich sind – und dies gern machen.

Die School for Life fördert Kinder nicht darin, das Label „Opfer“ oder „Trauma“ lebenslang vor sich her zu tragen, sondern aus biografischen Schrottplätzen – im weitesten Sinne – Gold zu machen. So wie Ott, der seine Verletzungen zuerst als „Bad Boy“ ausagierte, der die Schule schwänzte, stahl, trank, mit Drogen handelte, dann eine von der School for Life und der Chiang Mai University eingerichtete Ausbildung zum Pfleger hochklassiger Pferde absolvierte, Reiten lernte, zum Polo Spieler wurde und vom High-end-Polo-Club in Pattaya zur professionellen Ausbildung nach Argentinien geschickt wurde. Als Ott zurück war, schien er vom Erlebten überwältigt zu sein. Soviel wie dort hätte er noch nie in seinem Leben gelernt. Jetzt habe er verstanden, was Lernen bedeute. Jetzt wolle er alles wissen, über Religion, Philosophie, Politik – er habe so viele Fragen, die er beantwortet haben wolle. Ott hatte sein Gold gefunden.

 

Kein Täter werden

Christoph Joseph Ahlers hat im Jahr 2005 am Institut für Sexualwissenschaft der Berliner Charité das Präventionsprojekt Dunkelfeld mitgegründet.  In: „Himmel auf Erden und Hölle im Kopf“ (München 2015) hat er unter anderem einen vorzüglichen Beitrag zum Thema Pädophilie geleistet. Ich zitiere ihn hier in der Art eines Dossiers ausführlich. Alle Zitate sind den Seiten 389 – 398 * entnommen.

Zum Präventionsprojekt schreibt Ahlers:

„Der Slogan des Projektes lautet ‚lieben sie kinder mehr als ihnen lieb ist?’ Man beachte die absichtlich doppeldeutige Schreibweise in Kleinbuchstaben. Unsere Botschaft war: Du bist nicht schuld an deinen sexuellen Wünschen und Bedürfnissen, aber du bist verantwortlich für dein sexuelles Verhalten: www.keintaeterwerden.de. Das Geheimnis des Erfolges war, dass wir von Anfang an propagiert haben, Personen nicht für ihr So-Sein moralisch zu verurteilen, sondern für ihr Verhalten ethisch zu verpflichten. Wir haben den Betroffenen gesagt: ‚Du hast dir selbst nicht ausgesucht, so zu sein! Du kannst nichts für dein So-Sein. Nimm es an – und zeige dich verantwortlich für dein Verhalten! Auch wenn du diese und jene Bedürfnisse hast, musst du sie nicht ausleben und ausagieren. Schon gar nicht zum Nachteil anderer! Und wenn du das schaffst – mit therapeutischer Hilfe –, dann erkennen wir das an, und du bist und bleibst Teil unserer Gemeinschaft!’ Durch diese andere Ansprache und differenzierende Umgangsweise mit dem Thema Pädophilie ist es gelungen, viele Betroffene dafür zu gewinnen, sich vorbeugend therapeutische Hilfe zu suchen, um nicht zum Täter zu werden. Mittlerweile ist das Projekt zu einem Präventionsnetzwerk mit zwölf Standorten in ganz Deutschland gewachsen, und es haben sich bis Mitte 2015 über 5500 Personen gemeldet, um kostenlos, anonym und schweigepflichtgeschützt vorbeugende Therapie in Anspruch zu nehmen, um nicht zum Täter zu werden. Das ist doch schon mal ein Anfang, oder?“

„Pädophile erleben Kinder als ebenbürtige, gleichwertige Partner auf Augenhöhe. Und sie wünschen sich eine partnerschaftliche Beziehung mit ihnen, die genauso sexuellen Kontakt beinhaltet wie bei allen Menschen. Das heißt aber umgekehrt und anders, als man das gemeinhin denkt: Das Interesse am Kind erschöpft sich bei Pädophilen nicht im Wunsch nach Sex. Mitnichten! Sie wünschen sich ein ganzheitliches Beziehungserleben, sie wollen Zeit mit dem Kind verbringen, Unternehmungen machen, ins Kino gehen, reden, rumtoben, balgen, vorm Fernseher abhängen. Und ein Teil, der für sie eben auch dazu gehört, ist Sex. Der vielleicht stattfindet – vielleicht auch nicht. Das problematische ist hier nicht die Art und Weise des sexuellen Kontaktwunsches, sondern allein das Alter der begehrten Personen.“

Ahlers unterscheidet zwischen Präferenztätern, die nahezu ausschließlich an Kindern interessiert sind, und Männern, die als „Ersatzhandlungstäter“ sexuellen Kindesmissbrauch begehen, ohne sexuell auf Kinder ausgerichtet zu sein. Etwa zwei Drittel der wegen Kindesmissbrauch Verurteilten seien nicht pädophil. Sie griffen ersatzweise auf Kinder zu. „Kaputte Paar-und Sexualbeziehungen sind meiner Erfahrung nach ein eminenter Risikofaktor für sexuellen Kindesmissbrauch!“

Der Pädophile ist mit dem Kind nicht allein auf weiter Flur, er ist systemisch eingebunden: „Die Pädophilen, die ich in meiner klinischen Laufbahn kennengelernt habe, hatten häufig langjährige Beziehungen mit Kindern. Die haben mit diesen Kindern auf die eine oder andere Art und Weise gelebt, und zwar so gut wie immer mit dem Wissen der Eltern. Denn wie sollte man eine ‚Beziehung’ mit einem Kind führen, das in die Schule geht, Fußballtraining und Freunde hat, ohne dass die Eltern davon wissen? Diese Männer tauchen als ‚ältere Freunde’ auf, als solche, die sich immer ‚so ein Kind gewünscht’ haben, als zugewandte Trainer oder Betreuer. Sie kümmern sich auch um das Kind, machen Hausaufgaben mit ihm, gehen zum Friseur, zum Kiefernorthopäden, zum Gitarrenunterricht. Ganz häufig findet in diesen Beziehungen ein soziales Fürsorgeverhalten statt, das die Eltern dieser Kinder entlastet. Ein pädophiler Mann, ein Fußballtrainer, erzählte mir einmal: ‚Nach dem Training hatte ich immer die Bude voll. Wir haben Videos geschaut und Playstation gespielt. Irgendwann am Abend wurde es dann immer leerer, die Jungs gingen nach Hause. Aber ich sage Ihnen: ‚Einer bleibt immer! Und dass ist derjenige, auf den zu Hause niemand wartet.’“

Und: „Der Großteil der Kinder, die Opfer von Pädophilen werden, stammt aus verwahrlosten Verhältnissen, nicht unbedingt wirtschaftlich, eher sozial und emotional verwahrlost. Und die Eltern schert es entweder nicht, wo das Kind seine Zeit verbringt – oder sind sogar froh, dass sich der ‚ältere Freund’ um das Kind kümmert, das sonst bloß nervt und stört. Viele dieser Kinder entbehren zu Hause Interesse, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Fürsorge und Förderung. Viele Kinder hören von den Eltern nur: ‚Du kannst das nicht! Lass das sein! Das ist verboten! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du das nicht machen sollst?’ Sie hören: ‚Nein! Don´t! Stopp!’ Und jetzt kommt da eine Person, ein Erwachsener, der sagt: ‚Ja! Du! Dich meine ich! Wie heißt du denn? Thomas! Schöner Name! Mit dir möchte ich mich mal unterhalten. Was machst du denn so? Und wie lange schon? Mensch, das kannst du alles? Unglaublich! Zeig mir das nochmal. Doch, doch, ich möchte dir zugucken. Wahnsinn! Toll, wie du das machst!’

Merken Sie etwas? Da findet eine Aufladung leerer Akkus mit Aufmerksamkeit, Zuwendung, Interesse, Anerkennung und Wertschätzung statt. Dadurch ist die Beziehung sofort da. So geht das los. Und so schwer das auszuhalten ist: Hier findet sich eins zum anderen. Ein wenig geliebtes Kind – und ein Mann, der auf Kinder ausgerichtet ist und sie deshalb wirklich mag und schätzt.“

Und nun, Kollegen und Kollegen, kommen wir – und das wird bei dem pharisäerhaften Geschrei auch Zeit! – selbst in den Blick, wir, die ‚dagegen’ gefeiten Nicht-Pädophilen:

„Meines Erachtens existiert ganz fraglos bei uns allen eine sensorische Ansprechbarkeit durch Kinderkörper. Kinder haben weiche Haut, große schöne Augen, feines Haar, die riechen gut, sind niedlich, klein, griffig, mit denen möchte man gerne kuscheln, knuddeln, kitzeln, raufen, herumtollen und so weiter. Da beginnt das Kontinuum: mit der sensorischen Attraktivität, die aber noch nicht mit sexueller Erregung verknüpft ist. Auf dem Kontinuum geht die Reise weiter, wenn nichtpädophile Personen bemerken, wie sie beim Rumtoben mit Kindern im Wasser oder auf der Bettdecke plötzlich doch eine Art sexueller Erregung verspüren. Die wird dann in der Regel ich-fremd verarbeitet und geleugnet, weil dieses Gefühl total verboten ist. Daraus resultiert aber kein Bedürfnis nach sexueller Kontaktaufnahme. Und so weiter, und so weiter – ich will jetzt dieses Kontinuum nicht auch noch bis zum Schluss durchdeklinieren. Ich denke, es ist klar, worum es mir geht: zu zeigen, dass selbst der vielgehasste Pädophile Anteile seines sexuellen Erlebens mit uns teilt.“

So um 1968 lud mich als jungen ZEIT-Reporter die Berliner „Kommune II“ ein und bat darum, ein von ihr verfasstes Buchmanuskript zu redigieren. Ich kam in die Wohnung, geriet nicht in Versuchung, gut Wetter zu machen und die Geschirrberge in der Küche abzuwaschen, schnappte mir vielmehr das Manuskript, begann mit der Lektüre und fand, dass der Jargon unredigierbar war. An zwei Passagen über Kinder erinnere ich mich: Erstens, wie man Kinder an der kapitalistischen Falle in Form eines Kaugummiautomaten im unteren Hausflur vorbei lancieren kann, ohne dass sie Geld einwerfen, um an die Überraschungskugeln zu kommen. Und zweitens: was man als Kommunarde am besten tun kann, wenn beim Toben im Bett ein Kind den Pimmel des Kommunarden erwischt und der sich versteift. Ein Problem, das von den Kommunarden ziemlich schräg diskutiert wurde.

Ich hätte als Mitbegründer des eher liberal-revolutionären Kinderladens Charlottenburg IV diese Probleme gern im „Zentralrat sozialistischer Kinderläden“ diskutiert, aber der Genosse Vorsitzende hatte gerade dazu aufgerufen,  sich nur noch mit Kindern des Proletariats zu beschäftigen und damit das Ende des Zentralrats herbeischwadroniert.

Ahlers schreibt, dass sich beim Kauf von „Dokumenten von sexuellem Kindesmissbrauchs, vulgo ‚Kinderpornographie’“ Zuwachsraten ergäben, die sich mit der Häufigkeit von Pädophilie überhaupt nicht erklären ließen: „Als die kanadische Polizei im Jahr 2014 im Laufe der Operation Spade gegen einen internationalen Ring von organisiertem Kindesmissbrauch ermittelte, stellte sie 45 Terabyte an Filmdokumentationen nackter Kinder und Missbrauchsabbildungen sicher. Das entspricht einer Datenmenge von 30000 komprimierten Kinofilmen! Der Händler Azov-Film setzte im selben Jahr vier Millionen Dollar mit Missbrauchsabbildungen um. Zwischen 2010 und 2014 hat sich die Anzahl der Internetportale, die solche Abbildungen anbieten, verzehnfacht. Selbst wenn alle Pädophilen im Internet rund um die Uhr Pornos schauen würden, ließe sich dadurch noch lange nicht dieser immense Markt für ‚Kinderpornografie’ erklären.

Das gucken offensichtlich ganz viele, die nicht pädophil sind! Diese kollektiven Eigenanteile will aber niemand wahrhaben: Das ist alles total tabu.

Und weil es tabu ist, hasst unsere Gesellschaft auch niemanden so sehr wie ‚den Pädophilen’ – mit einer Inbrunst, die ihresgleichen sucht.

Es ist ein psychoregulatives Prinzip, problematische Eigenanteile kollektiv aus der Mehrheitsgruppe zu externalisieren, indem man sie einer Minderheit zuschreibt. Erst wenn diese Minderheit ausgegrenzt, idealerweise vernichtet ist, hat die Mehrheitsgruppe symbolisch (und real gefühlt) auch ihre problematischen Eigenanteile vernichtet. Deshalb kreieren wir ‚schwarze Schafe’, ‚die Ausländer’, ‚die Verbrecher’, ‚die Pädophilen’, lieber noch: ‚die Pädosexuellen und Pädokriminellen’; deshalb lassen wir kein gutes Haar an ihnen, exekutieren sie sozial in den Medien und sind danach wieder ‚clean’ und ‚real white’. Wir alle haben dann jemanden, den wir gemeinsam verachten, auf den wir herabschauen können, um uns selbst über ihn zu erheben, auf den wir mit dem Finger zeigen, uns angewidert abwenden und sagen können:

‚Pfui, was für ein Schwein!’ Das ist eine jahrtausendealte Kulturpraktik, die wir entwickelt haben – und die heute von den Massenmedien bewirtschaftet wird. Ein stabiles Prinzip. ‚Die Pädophilen’ sind die psychohygienische Bad Bank für unsere kollektiven Fürsorgeschulden bei den vernachlässigten und verwahrlosten Kindern unserer Gesellschaft.“

Wir, konstatiert Ahlers, die wir keine ausgeprägte pädophilen Eigenimpulse feststellen würden, hätten Glück gehabt: „Ich betone: Glück gehabt!

Je besser wir diese Tatsache aushalten, desto eher gelingt auch ein erfolgreicher Umgang mit diesen Ausprägungen. Es muss um die Integration der Betroffenen gehen, nicht um Ausgrenzung und Abschiebung. Integration wäre nicht nur der therapeutisch gebotene Weg, um problematische Verhaltensweisen am besten vorbeugend behandeln zu können, sondern auch die gebotene gesellschaftliche Reaktion auf diese Probleme. Wie können wir von jemandem erwarten, gut zu sein, wenn wir ihm ständig sagen, dass er schlecht ist? Verbot, Kontrolle und Strafe, Diskriminierung, Entwertung und Ausgrenzung sind keine validen Konzepte. Sie haben sich nicht bewährt. Wir verklappen damit die Probleme nur in den Untergrund, wo sie fröhlich wieder zum Vorschein kommen – und Menschen leiden lassen: ‚Opfer’ wie ‚Täter’. Richtiger wären Einbeziehung, Integration und die Beförderung von Selbstbeobachtung, Selbstverantwortung, Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle. Sozialromantisch? Vielleicht. Ich würde eher sagen humanistisch und primärpräventiv wirksam.“

Bravissimo, Kollege Ahlers! Sie halten das Fähnlein der Aufklärung ganz hoch! Sie haben jede Menge klinischer Erfahrungen im Gepäck, und deshalb kann Ihnen keiner mal so eben in die Wade beißen.

 

Kurzer Traum

Pörksen, Schulz, Bebenburg, Oelkers, Brachmann, Miller und ich, alles eingefleischte Heterosexuelle, träumen und wachen in einem Land auf, in dem die Liebe zu Frauen als hochkriminell geahndet wird. Verdammter Mist, nicht wahr? Nicht so einfach, dem Knast zu entkommen, indem wir uns kastrieren lassen oder auf dem Berg Athos in der Versenkung verschwinden.

 

Ein mehrfaches Machtgefälle

In Berlin Kreuzberg kam Mitte der 1980er Jahre ein Lehrer zu mir, druckste herum und sagte, er werde strafversetzt und könne nicht mehr im Team mitwirken, das an der Entwicklung interkultureller Nachbarschaftsschulen arbeitete. Sein Gesicht war blass, seine Augen unstet, er wirkte sehr unsicher und tat mir leid, er war eher ein Lehrerlein als eine gestandene Lehrkraft. Ich bekam aus ihm nicht mehr heraus als dass die Schulverwaltung ihm die Art seines Umgangs mit Kindern vorhielt. Dann verschwand er vom Radar, und es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, worum es gegangen war.

Wäre Gerold Becker ein Kreuzberger Lehrerlein gewesen, das sich seiner pädophilen Neigungen nicht erwehren wollte, hätte es sich ‚nur’ um die Ausnutzung des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern gehandelt.

Bei Becker aber kommt einiges obendrauf: die Amtsautorität des Schulleiters, die Superstar-Rolle in seinen sozialen Netzen, das Charisma des verstehenden, zuhörenden, helfenden Pädagogen, alles Eigenschaften, die auf – noch nichts ahnende –  Kinder höchst beeindruckend wirken mussten. Dass Becker dieses mehrfache Machtgefälle über Jahre ausgenutzt hat, ist das eigentlich Unfassbare seiner Taten, ist die krasse Verantwortungslosigkeit des Leiters, der sehr wohl wusste, wie ethische Standards und triebgesteuerte Wirklichkeit auseinanderklaffen.

Ein ähnliches, auf Macht- und Kindesmissbrauch gerichtetes Verhalten hat in jenen Jahren Otto Muehl gezeigt, der Wiener Aktionist, der – anders als seine Kollegen Hermann Nitsch, Günter Brus oder Oswald Wiener – es nicht bei künstlerischen Aktionen beließ, sondern die zunächst libertäre, dann durch faschistische Strukturen geprägte AAO-Kommune im Friedrichshof im Burgenland gründete. Der Kommune mit Ablegern in diversen Städten gehörten zeitweise um die 600 Mitglieder an. Darunter waren viele Kinder. Da Zweierbeziehungen verpönt waren und Elternschaft als kleinbürgerlich abgelehnt wurde, wuchsen die Kinder im Kollektiv auf, und die Mädchen waren Muehl, der sich ab 1985 als Monarch verstand, nach Belieben ausgeliefert. Dafür wurde er 1991 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Und ich erinnere mich, wie mir Ex- Kommunarden erzählten, dass Jahre nach der Auflösung der Kommune die DNS-Sortiererei begann: wer denn nun von wem der Vater und zu Unterhaltszahlungen heranzuziehen war.

Im Missbrauch von Machtstrukturen und Kindern ähneln sich die Geschehnisse im Friedrichshof und in der Odenwaldschule, und es gehört zu den krassen Versäumnissen der deutschen Diplomatie in Chile, dass sie dem Treiben des Paul Schäfer in der Colonia Dignidad jahrelang zugesehen hat, ohne zu intervenieren.

Je weiter einer oben ist, desto mehr Selbstkontrolle und Verantwortung gegenüber Anvertrauten muss er leben.

Mein Großvater Wolfgang Paeckelmann, in der Weimarer Zeit Mitbegründer und erster Leiter der Studienstiftung des deutschen Volkes und in den 1950er Jahren Oberleiter der Hermann Lietz-Schulen, erwischte auf Schloss Bieberstein, der damaligen Mittelstufe, einen rauchenden Jungen. Der Junge, vielleicht 14 Jahre alt, erwartete eine harte Strafe, aber mein Großvater verhandelte mit ihm: Wenn er, der Jugendliche, aufhören würde zu rauchen, würde er, der Oberleiter, es auch tun. Ich wusste: Mein Großvater war ein leidenschaftlicher Zigarrenraucher, und am liebsten waren ihm die langen Schweizer Zigarillos, aus denen man erst einen Strohhalm ziehen musste, bevor man sie anstecken konnte. Der Junge schlug ein, und mein Großvater hörte mit der Raucherei auf, bis er pensioniert war und an den Bodensee zog.
Hellmut Becker hat mir diese Geschichte später als Beispiel unmöglicher Pädagogik erzählt. Nun ja, ich finde diese Geschichte eher beeindruckend: Da ging der Wolfgang Paeckelmann mit gutem Beispiel voran, und ich sah, wie verdammt schwer ihm das fiel.

 

Die Verteidigung des Verurteilten

Nicolas Becker, Strafverteidiger in Berlin, hat vor einigen Jahren in einem plausiblen Beitrag erläutert, warum er Erich Honecker verteidigt hat. Hartmut von Hentig hätte sich – 25 Jahre zuvor – ein ordentliches Gerichtsverfahren in der causa Becker gewünscht. Nun hat er die Verteidigung selbst übernommen.

Er, der immer noch Liebende? Warum denn nicht?

Er macht das, was jeder Verteidiger von der Professionalität eines Nicolas Becker (einer der Söhne von Antoinette und Hellmut Becker) auch getan hätte: einschlägige Dokumente wie die hinterlassene Korrespondenz Beckers auswerten, Zeugenaussagen überprüfen, Sachverständige auf ihre Unabhängigkeit hin befragen; wissenschaftliche Erkenntnisse über Pädophilie, Traumatisierung, Viktimologie heranziehen; den Angeklagten nicht nur als Mr. Hyde, sondern auch als Dr. Jekyll beleuchten, und so weiter.

Das mag der Staatsanwaltschaft – hier: der Jagdgesellschaft – nicht passen, es ist jedoch Auftrag und Recht der Verteidigung. Gerold Becker ist auch ohne Gerichtsverfahren verurteilt und verdammt worden, denn an seinen Untaten bestehen – alles in allem – keine Zweifel; das macht eine ex-post-Verteidigung nicht gerade leichter. Aber den Verteidiger der „Opferverhöhnung“ zu zeihen, ist ein abwegiges Totschlag-Argument. Die kritische Befragung von Aussagen einzelner Opfer muss dem Verteidiger erlaubt sein. Und auch die möglichen emotionalen Verstrickungen zwischen einzelnen Opfern und dem Täter Becker selbst nach der OSO-Zeit sind kein Tabu. Die Viktimologie hat dieses Phänomen schon lange in den Blick genommen. Damit werden aus Opfern noch längst keine Täter. Sie sind und bleiben Opfer.

Was mir bei dieser ganzen Auseinandersetzung fehlt?

Der Versuch eines Täter-Opfer-Ausgleichs. Nicht zwischen dem sterbenden Gerold Becker und seinen Opfern, sondern stellvertretend zwischen dem an Beckers Taten unschuldigen Hartmut von Hentig und Beckers Opfern. Hentig schreibt, er hätte sich für die dem Missbrauch ausgesetzten Kinder jederzeit in die Bresche geschlagen, hätte er damals davon gewusst, nicht jedoch für jene Altschüler, die ihn sofort und so heftig attackierten, dass eine Verständigung damit verbaut war. Aber gab es denn nicht auch andere Ehemalige, die mit weniger Hass aufgeladen, in Hentig einen geduldigen Zuhörer und Freund hätten finden können? Wer damals, nach der zweiten FR-Veröffentlichung, den Blog verfolgt hat, auf dem ehemalige Schüler und Schülerinnen der OSO unter sich diskutierten, hat unschwer die Varianz der Meinungen, die Vielfalt der Emotionen mitbekommen. An Hentigs Stelle hätte ich wahrscheinlich versucht, mit den kommunikationsbereiten Ehemaligen – sie mögen sich bitte melden – eine Opfer-Ausgleichs-Aktion einzuleiten und therapeutische Unterstützung zu mobilisieren. Aber Hartmut von Hentig war geschockt über das Pogrom, über die wilden Emotionen, die ihm entgegenschlugen, über die vor seiner Wohnungstür ausgekippten Farbkübel, über die den Hauseingang, den Hof, das Treppenhaus, die Wohnungstür bedeckenden Schmierereien, über die über ihn medial verhängte `Sippenhaft`, über die Gnaden- und Respektlosigkeit der Jagd, die ihn unvorbereitet traf.

Es ist mir ganz und gar verständlich, dass das Gespräch und diese solidarische Aktion mit den Opfern nicht zustande kam. Aber es ist sehr schade.

 

IV. „DU HAST KEIN HERZ, JOHNNY…“

Eine Liebe mit Schlagseite

An den homosexuellen Kollegen Jens am 12. Juni 2016: „Ich habe mich gerade mit der genaueren Lektüre des Buches von Jürgen Oelkers befasst. Der druckst an Stellen herum, wo es um das persönliche Verhältnis zwischen Hartmut von Hentig und Gerold Becker geht: Haben sie nun oder haben sie nicht? Oelkers fällt dazu nur ein: ‚eine rätselhafte Paarbeziehung’.

Meine Frage an Dich: Wenn ein Homosexueller einen Pädophilen liebt und mit ihm ein sexuelles Verhältnis eingehen möchte, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass der Pädophile davon durchweg begeistert ist. Wäre ich als Heterosexueller auch nicht, wenn sich ein Ladyboy unsterblich in mich verlieben würde und ich im Bett in später Nacht merkte, um wen es sich handelt. Ich kann mir also nicht so recht vorstellen, dass Gerold Becker mit Hartmut von Hentig ein leidenschaftliches Liebesverhältnis eingehen konnte oder wollte. Wenn er das nicht konnte oder wollte, war es von Anfang an eine Liebe mit Schlagseite. Hartmut von Hentig hat, das sagt er ja auch selbst, Gerold Becker mehr geliebt als Becker ihn. Die Frage ist, ob die beiden überhaupt eine (nicht nur passagere) sexuelle Beziehung hatten, ob Becker, der nur an Kindern interessiert war, an Hentig, was Sexualität angeht, nicht wirklich interessiert, aber existenziell daran interessiert war, unter dem liebevollen Schutz Hartmut von Hentigs zu leben, Karriere zu machen und sich Zugang zu Kindern zu verschaffen.

Bei Hartmut von Hentig spielt der Begriff Askese eine Rolle. Mit der konnte er möglicherweise umgehen, solange Gerold Becker wenigstens bei ihm war. Als Becker dann die Chance bekam, zur OSO zu gehen und bei ihm schon im Vorfeld die Sicherungen seines Gewissens durchbrannten (sonst hätte er einen weiten Bogen machen und das Angebot zurückweisen müssen), hat er Hentig verlassen; und Hentig erlitt eine ‚tödliche Niederlage’. Deine genauere Kenntnis ist hier gefragt, und ich wäre Dir für erhellende Hinweise sehr dankbar… Jürgen“

Antwort vom Kollegen Jens am gleichen Tag: „Es ist genauso wie Du vermutest, lieber Jürgen. Jens“

Nun gibt es bei Oelkers ein weiteres Rätselraten: Warum Becker von der OSO zu einer Zeit abgegangen ist, in der er noch gar nicht aufgeflogen war. Nach Oelkers` Wähnungen müsste es einen Grund gegeben haben, der mit der Verschleierung der Untaten zu tun hat. Hartmut von Hentig hat in seinem Buch auf den Seiten 874 bis 878 aktenkundige Auskünfte erteilt, die diesen Verdacht auflösen. Vielleicht auch ist Gerold Becker im fortgeschrittenen Alter der Absprung leichter gefallen; er muss von Zweifeln halb zerfressen gewesen sein, und er musste es wissen: Je höher der Sockel, auf den man geklettert ist, desto tiefer kann der Fall sein. Becker wollte nicht fallen, sondern ungeschoren davonkommen – wohl auch durch Askese wie sein großer Freund Hartmut von Hentig. Dass Oelkers’ die spätere Reiserei Beckers verdächtig findet, ist schon wieder Wähnung, mehr nicht.

Hat Gerold Becker Hartmut von Hentig geliebt? Oh ja! Oh nein!

Ja, weil er in Hentig den besten Freund fand, den man nur finden konnte. Weil er in ihm einen blitzgescheiten, äußerst belesenen, von konkreten pädagogischen Utopien geprägten, die Klaviatur der intellektuellen, kulturellen und sozialen Elite souverän beherrschenden Partner hatte, einen, der ihn herausforderte und zugleich ohne Wenn und Aber akzeptierte – und einen belastbaren, nachsichtigen Menschen.

Nein, weil die erotische Leidenschaft fehlte, und weil Becker seinen Freund im Regen stehen ließ, als dieser sich an die Gründung der Laborschule und des Oberstufenkollegs machte; das bringt keiner über sich, der wirklich – und das heißt auch: mit aller Verantwortung – liebt.

 

Eine Liebe über den Tod hinaus

Hartmut von Hentig hat Gerold Becker geliebt und liebt ihn immer noch. Aus Gesprächen mit ihm und aus Lektüre seines Buches entsteht das Bild einer ‚unconditional love’, der einzig wirklichen, der lebenslangen Liebe auch über den Tod hinaus. Diese Liebe fragt nicht nach Erlaubnis.

Und deshalb erlebe ich das Buch mehr als zeitgeschichtliches Dokument über eine tragische Liebe und nicht als Gegenstand der Verteilung von Noten. Es ist so wie es ist. Die Frage, ob man einen Verbrecher lieben darf mitsamt seinen Verbrechen, wäre falsch gestellt. Man liebt ihn trotz seiner Verbrechen. Und wenn Hartmut von Hentig schreibt, er würde die Taten Beckers zwar verurteilen, könne sie aber nicht verabscheuen, dann ist das Ausdruck davon, dass Liebe unteilbar ist, dass er – um Robert Louis Stevenson’s berühmte Geschichte noch einmal zu zitieren – Mr. Hyde im Keller belässt, während Dr. Jekyll in der Erinnerung Mr. Hyde überstrahlt.

Verbrecher können diesseits ihrer Untaten freundliche Menschen sein. Zum ersten Mal war ich darüber verblüfft, als ich als Psychologie-Student im bayerischen Jugendstrafvollzug Niederschönenfeld schwerkriminelle Jugendliche auf die Zeit nach ihrer Entlassung vorzubereiten versuchte:  richtig nette Kumpel. Viele Jahre danach hat mir Ute Craemer, eine Sozialarbeiterin in der Favela Monte Azul in São Paulo erklärt, wie sie mit Gangstern und anderen schwierigen Menschen umgeht: „Kümmere dich nicht um die aufgedonnerte Fassade deines Gegenübers, denn wenn du dich auf sie einlässt, kann es leicht eskalieren. Sprich direkt seinen Kern an, seine Idealvorstellung von sich selbst, sein ‚inneres Kind’ und: liebe ihn so wie deinen Nächsten auch!“ Ich habe später erfahren, wie sie mir mit dieser Erkenntnis in brenzligen Situationen weitergeholfen hat, ob nun im Umgang mit jugendlichen Straßenräubern in Rio oder mit der muslimischen Guerilla auf der südphilippinischen Insel Jolo.

Der beeindruckende Dokumentarfilm von Malte Ludin: „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ handelt von seinem Vater, dem SS- Mann Hanns Ludin, der als Hitlers Gesandter in der Slowakei für die Deportation von 60.000 Juden verantwortlich und 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtet worden war. Malte, der mit mir in Salem war, berichtet von der Zerrissenheit seiner Familie: „Er war doch ein liebevoller Vater“, so die einen. „Er war ein Verbrecher“,  so die anderen Geschwister. An der Legendenbildung vom guten Nazi strickte vor allem die Frau von Hanns Ludin, Maltes Mutter. Auf Schloss Hohenfels, der Unterstufe Salems, war Ellen, Maltes Schwester, meine erste Freundin, auch wenn wir, gerade elf Jahre alt, nur miteinander herumstanden. Im Salem jener ersten Nachkriegszeit versammelten sich Kinder von Tätern des Naziregimes und von Helden des Widerstands. Sie wussten nichts von der Rolle ihrer Väter – mit Ausnahme der Stauffenbergs. Jahrzehnte später ist Ellen in Maltes Film zur Vertreterin eines innerfamiliären Schweigekartells geworden. Neben Malte war es dann die Enkelin Alexandra Senfft mit ihrem Buch: „Schweigen tut weh“ (Berlin 2007), die sich mit ihrer Mutter Erika, der ältesten Tochter Ludins auseinandersetzend, die „Kultur des Schweigens“ (Paulo Freire) erneut durchbrochen hat.

Er war doch nicht nur ein Verbrecher, sondern auch ein herzensguter Mensch: Das ist Hartmut von Hentigs Auffassung; und es ist viel Wahres daran. Denn Gerold Becker nur in die Schublade „verbrecherischer Serientäter“ zu stecken, zielte an der facettenreichen Wirklichkeit vorbei. Genau so eindimensional wäre die These, Becker habe nur Karriere gemacht und sein Netz gestrickt, um sein Täterverhalten zu verbergen. Karriere ist auch unabhängig von sexuellen Orientierungen ein wichtiger Motor des Handelns.

Die Tragik der Liebe Hartmut von Hentigs liegt nicht nur darin, dass er immer auch ein Stück vergeblich liebte, dass er bis zum Schluss von Gerold Becker nichts über die Wahrheit der Verbrechen erfuhr, sondern dass er nun auch noch Prügel von allen Seiten bezieht. Er ist zum Projektionsschirm des Hasses auf Becker geworden, man versucht, ihn in Sippenhaft zu nehmen, zum Stellvertreter zu machen. Mit dem Hass, der Häme und der Verachtung indessen geschieht Hartmut von Hentig großes Unrecht. Es ist beschämend, wie eine auch aus Mitgliedern der erziehungswissenschaftlichen Zunft bestehende Jagdgesellschaft Hentig zum medialen Abschuss frei gegeben hat. Ist das auch Rache? Hentig hat nie das Problem verschwiegen, dass er mit vielen Bindestrich-Erziehungswissenshaftlern in der Sache hat, jenen Verwaltern kleinteiliger Wissensgebiete ohne wirklichen Praxiszugang. Die Generalisten, die Pädagogen, die nicht nur an Theorieentwicklung interessiert sind, sondern sich auch erfolgreich oder scheiternd auf Praxis einlassen, müssen – so sieht er es – erst wiedergeboren werden.

Diese Jagd hat McCarthy-Format. Ihre Gnadenlosigkeit erinnert mich an Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ und an die durch Scheingewissheiten angetriebene „Hexenjagd“ von Arthur Miller.

 

Stellensucher oder: ein weites Panorama

Die Hochgeschwindigkeits-Rezensenten der ersten Tage haben, vom Tunnelblick heimgesucht, den Inhalt des Buches eingedampft auf ein paar ‚Stellen’, die sie mit der Zange vorführen und sich darüber ereifern. Liest man genauer und nimmt die Zusammenhänge zur Kenntnis, dann hat Hartmut von Hentig viele plausible Erklärungen und Entgegnungen zu den Vorwürfen geliefert. Für mich: das reicht, Klappe zu.

Ich lese das Buch zum zweiten Mal, in Ruhe, von vorne nach hinten, und nicht nur die Kapitel 10-17: Ein weites, faszinierendes Panorama entfaltet sich. Heute, am 14. Juli 2016 im Farmhaus der School for Life Chiang Mai, bin ich auf Seite 113 angekommen: Der junge Goethe mischt sich gerade in den Streit über den Preußenkönig Friedrich II. ein. Den Abschied von der Pädagogik, die Reise zur Wildenburg und den Exkurs über Sten Nadolny habe ich schon hinter mir. Vor mir liegen Erlebnisse in Kiew, die Besprechung von Filmen und Büchern, des Autors Verblüffung über Aufzeichnungen der Verhöre von Hauptkriegsverbrechern der Nazis, Auseinandersetzungen mit Politik und abendländischer Wertegemeinschaft, der Fall Günter Grass, Anrührendes über Mitglieder der Familie und Freunde wie Peter Wapnewski, und, und, und, …

Manchmal denke ich: Wow, Hartmut von Hentig! So viele bedeutende Menschen und mittendrin der Autor! Manchmal ein bisschen viel gegenseitiges Schulterklopfen. Manchmal zu sehr A-Männchen der intellektuellen High Society, aber macht nichts, Hartmut von Hentig, denn das wissen Sie ja selbst und es ändert nichts daran: Das Buch ist eine unglaublich quellenreiche, liebenswerte Bildungsgeschichte. Unsereiner, mehr mit Menschen an den sozio-ökonomischen Peripherien dieser Welt befasst, würde nicht auf die Idee kommen, einige 1000 Seiten über sich selbst zu schreiben, aber sei’s drum: In der altjavanischen Mystik ist es nicht der exterritoriale Gott, sondern der Gott in uns selbst, der zählt. Und deshalb hat die indonesische Guerilla, als sie nach 1945 die Holländer vertrieb, geglaubt, sie sei unverwundbar. Hartmut von Hentig ist das irgendwie auch. Er kann zwar harte Prellungen erleiden, aber er steht wieder auf. Andere hätten sich bei solchen Hassattacken vermutlich aus diesem Leben verabschiedet.

Die Jagdgesellschaft sollte Dampf ablassen und sich Zeit nehmen, das Buch nochmals mit mehr Muße zu lesen, Seite um Seite, von vorne nach hinten, und sich darüber freuen,  dass Hartmut von Hentig kein Mittäter, kein Mitwisser, kein Demütiger von Opfern, kein Verharmloser von Untaten war, sondern ein Lernender, ein über Zeiten glücklicher, zuletzt aber unglücklich Liebender war, ein in Sachen “sex&crime“ Naiver, dass er ein treuer und rechtschaffender Mensch war und ist, dessen Erkenntnisse und Praxis, dessen Gesamtwerk nicht dadurch ihre Gültigkeit verlieren, weil in Oberhambach ein durchgeknallter Schulleiter und weitere Täter ihr Unwesen getrieben haben. In vielleicht 80 Jahren werden Bildungshistoriker und an „best practice“ interessierte Pädagogen die Urgroßväter und -mütter des 20. Jahrhundert wiederentdecken: Ellen Key, Anton Semjonowitsch Makarenko, Maria Montessori, Alexander Neill, Paulo Freire, John Dewey, Janusz Korzcak, Siegfried Bernfeld, Hartmut von Hentig. Nicht zu vergessen: Ivan Illich. Seine Erkenntnis gilt immer noch: Das intensivste Lernen geschieht nicht durch Unterweisung, sondern durch die ungehinderte Teilhabe an relevanter Umgebung.

 

V. NACHTRÄGE

Chiang Mai, School for Life, 27. Juli 2016

Meinungsvielfalt und die Stellungnahme des Betroffenenrates

Die Stellungnahme des Betroffenenrates (http://noch-immer-mein-leben.de/stellungnahme-des-betroffenenrats-zu-hartmut-von-hentigs-buch-noch-immer-mein-leben/) ist durch eine beeindruckend eindeutige Sichtweise gekennzeichnet: Hartmut von Hentig will mit seinem Buch auf Kosten der Opfer seinen Freund reinwaschen.

Auch wenn ich, was die Einschätzung Hartmut von Hentigs und seines Buchs angeht, anderer Meinung bin, mit der Kernaussage des Betroffenenrates stimme ich voll überein: „Kinder brauchen ganz sicher nie sexuelle Handlungen mit Erwachsenen. Kinder wollten und wollen nie Sex mit Erwachsenen. Es gibt keinen gleichberechtigten Sex von Kindern mit Erwachsenen. Und Kinder fürchten sich immer vor der Erpressung, der Erniedrigung, der Beschmutzung durch die sexuelle Gewalt von oben, die ihnen gegen ihren Willen angetan wurde und wird.“

Nun gibt es einen Ausrutscher im Text: Der Betroffenenrat meint, es würde sich rings um den Verlag wamiki ein Unterstützerkreis Hentigs bilden. Falsch: wenn überhaupt, bildet sich ein Diskussions- und Differenzierungsforum. Der Betroffenenrat nennt „diesbezüglich Dr. Lutz van Dijk“ und unterstellt ihm und anderen, die Deutungsmacht erobern zu wollen, zu bagatellisieren, zu bestreiten oder zu tabuisieren. Da hat der Betroffenenrat sich den Falschen ausgesucht: Lutz van Dijk ist alles andere als das. In seiner Antwort an den Betroffenenrat (http://noch-immer-mein-leben.de/den-betroffenenrat-beim-ubskm) erkennt er „die nationale und internationale Bedeutung der Kommission uneingeschränkt“ an, beschreibt sein langjähriges Engagement gegen sexuellen Missbrauch in Südafrika in einem national und international anerkannten Township Projekt mit von HIV/Aids betroffenen Kindern und Jugendlichen und bietet Dialog und Zusammenarbeit an. Der Betroffenenrat, der seine Erklärung an einen umfangreichen Verteiler als ‚Fachgremium‘ der Kommission versandte (indessen nicht an Lutz van Dijk), hat bis heute noch nicht auf seine Schreiben geantwortet.

Wie auch immer: Eine Stellungnahme ist eine Stellungnahme. Die Autorinnen und Autoren können nicht beanspruchen, dass andere Auffassungen, die weder bagatellisieren, noch bestreiten oder tabuisieren, hiermit untersagt werden.

 

„Rashomon“ und Nachrichten aus der Zukunft

In Akira Kurosawas japanischem Filmklassiker „Rashomon“ (1950) wird im „Wald der Dämonen“ ein Samurai, der mit seiner jungen Frau und einem Pferd auf der Durchreise ist, von einem Räuber ins Unterholz gelockt, überwältigt und gefesselt. Der Bandit vergewaltigt die Frau vor den Augen des Samurai. Der Samurai wird erstochen, die Frau flieht, der Bandit wird drei Tage später gefasst. Ein Holzfäller beobachtet das Geschehen. Wir befinden uns in der Mitte des 12. Jahrhunderts in der Nähe von Kyoto.

Ich lade nun die Mitglieder des Betroffenenrates zu einer Sondervorstellung ins kleine Berliner Kino „Babylon“ ein. Dort sehen wir uns an, was im Film geschieht. Kurosawa erzählt mit großartigen filmischen Mitteln die Geschichte viermal: aus der Sicht des Banditen, der Frau, des Samurai und des Holzfällers. Alle vier Geschichten sind ganz unterschiedlich, alle beanspruchen, wahr zu sein. Verhandelt wird vor einem Gericht, das nicht ins Bild kommt. Der Ort der Verhandlung: eine Ruine. Die Zuhörer: ein Mönch und ein Bürger.

Der Bandit, seiner Hinrichtung gewiss, findet keinen Vorteil mehr in Lügengeschichten und gibt zu, den Samurai ins Unterholz gelockt und die Frau vergewaltigt zu haben. Indessen sei sie ihm nach einem anfänglichen Messerkampf zu Willen gewesen und habe danach den Räuber angefleht, sich mit ihrem Mann zu duellieren. Sie könne ihre Ehre wiedererlangen, wenn nur einer der Männer überlebe, dem sie dann folgen wolle. Daraufhin habe er, der Bandit, den Samurai losgebunden und ihn in einem ehrenhaften Schwertkampf besiegt.

Die Frau hingegen erzählt, sie habe sich nach dem Messerkampf dem Banditen hingegeben, um das Leben ihres Mannes zu retten. Der Bandit habe sich danach aus dem Staube gemacht. Ihr Mann habe nur noch Verachtung für sie empfunden. Auf ihr Flehen um Vergebung sei er genau so wenig eingegangen wie auf ihre Bitte, sie zu töten. Sie sei mit dem Messer in ihrer Hand ohnmächtig geworden und habe, als sie wieder zu sich kam, ihren Mann erstochen aufgefunden. Sie habe daraufhin vergeblich versucht, sich in einem See zu ertränken.

Der Samurai – er spricht aus dem Jenseits durch ein Medium – verflucht sowohl den Banditen wie auch seine Frau. Die habe sich dem Banditen als neue Gefährtin angeboten und die Ermordung des wehrlos gefesselten Samurai gefordert. Der Bandit aber sei über diese Forderung entsetzt gewesen und habe die Frau daraufhin verachtet. Die Frau sei geflohen und er, der Samurai, habe sich mit dem Dolch der Frau durch einen Stich ins Herz das Leben genommen.

Der Holzfäller berichtet, dass die Frau den Banditen und ihren Mann der Feigheit geziehen und einen Schwertkampf gefordert habe, um dann dem Stärkeren zu folgen. Daraufhin sei eine unwürdige Rauferei zwischen den beiden Männern ausgebrochen, an deren Ende der Bandit den am Boden liegenden Samurai abgestochen habe. Vor Gericht stellt sich heraus, dass der Holzfäller nicht nur Beobachter, sondern auch ein Gelegenheitsdieb war, der den Dolch der Frau mitgehen ließ.

Vier Geschichten, vier Wahrheiten. Die Mitglieder des Betroffenenrates und ich setzen uns nach der Vorstellung in ein Straßenlokal nebenan und erörtern die Geschichte. Wir sprechen darüber, dass unter anderem die Kritische Psychologie und der Radikale Konstruktivismus herausgearbeitet haben, wie wir an der Wahrnehmung von Wirklichkeit als Subjekte beteiligt sind und wie unterschiedlich dabei ‚Objektivität‘ und ‚Wahrheit‘ ausfallen können. Wir alle verfolgen unsere je eigene Methode der Wahrheitsfindung und Interpretation eines Geschehens. Es ist nie nur die objektive Situation, es ist immer auch unsere „social perception“ von ihr.

Die Wahrnehmungen und Interpretationen des Betroffenenrates zum Buch von Hartmut von Hentig nehme ich ernst und respektiere sie. Meine sind ziemlich anders. Im Straßenlokal neben dem „Babylon“ befinden wir, dass es müßig wäre, sich die Argumente wie im Pingpong weiter um die Ohren zu hauen. Wir beschließen, mit einer jeweils gut begründeten Meinungsvielfalt zu leben und sie mit Achtung voreinander zu verhandeln.

 

Chiang Mai, School for Life, 30. Juli 2016

Die „Neue Sammlung“ und eine Fehlentscheidung

Im Buch Hartmut von Hentigs lese ich noch einmal die Passage über den Konflikt in der Heraus­geberschaft der „Neuen Sammlung“ und über die Abstimmung zur Wiederaufnahme Gerold Beckers als Redakteur (es sind die Seiten 608-616).

Dazu hatte ich in einem Dossier über „Pädophilie und Pädagogik“ am 17. März 2010 geschrieben (es ist auch in diesem Blog unter dem Menüpunkt: Diskurs: Im Focus wieder nachzulesen):
„Was das externe Umfeld der deutschen Reformpädagogen von Enja Riegel bis zum damals pädagogisch noch nicht konvertierten Bernhard Bueb anbelangt, war es ja mehr eine Kultur der unbeirrbaren Ungläubigkeit mit Auffassungen wie „das passt doch überhaupt nicht zu Gerold Becker“ oder „er kann keiner Fliege, geschweige denn einem Kind, etwas zu leide tun“ bis zum Fazit „er war es nicht“.

Mit dieser Position wurde ich konfrontiert, als wir unter Herausgebern der „Neuen Sammlung“ Ende der neunziger Jahre die für mich ersten Beschuldigungen diskutierten. Ich war sehr irritiert, wurde aber damals wie auch später durch die eindeutige Haltung und Äußerung der beiden Hauptgewährsleute eines Besseren belehrt: von Hartmut von Hentig und Wolfgang Harder. Harder und Hentig, der eine dicht dran am Geschehen, und der andere als Freund Gerold Beckers, waren für mich ohne Zweifel glaubwürdig, und so kam ich zu der Auffassung von der Unschuld des Angegriffenen und beschloss, Gerold Becker nicht weiter unter Verdacht zu setzen, ihn nicht mit dem Kainsmal auf der Stirn, sondern wie vorher wahrzunehmen.
Als Jahre später Hartmut von Hentig vorschlug, Gerold Becker wieder mitarbeiten zu lassen, fand sich dafür eine Mehrheit von sechs Herausgebern, während drei dagegen waren und die Redaktion verließen. Es wurde intensiv, ernsthaft und fair diskutiert, und keiner hat sich die Entscheidung leichtgemacht.
Die Erkenntnisse von damals waren nicht die Erkenntnisse von heute. Heute wissen wir es besser.

Das Hin und Her des Konflikts, bei dem auch konzeptionelle Differenzen mitspielten, kann man im Buch nachverfolgen. Über die Gründe der anderen Mitherausgeber für ihre Mehrheitsentscheidung mögen sie selbst Auskunft geben. Mein eigener Grund, abgesehen von der Befragung der Kronzeugen Hentig und Harder, hängt mit einer Veranstaltung zusammen, die im „Forum Kinder und Erziehung“ auf dem 22. Deutschen Kirchentag in Frankfurt (Main)  am 19. Juni 1987 stattfand. Die Kirchentagsleitung hatte Hartmut von Hentig, Gerold Becker und mich im Vorfeld des Kirchentags gebeten, die Bergpredigt auf pädagogische Konsequenzen hin zu interpretieren. Als ich mir die Predigt unter dieser Perspektive ansah, wurde deutlich: ein ganz radikaler Text für Pädagogen! Ich diskutierte mit den beiden Ko-Autoren viele Stunden lang, und es entstand eine Art Manifest. Titel : „Die Verantwortung der Christen für die Kinder und ihre Zukunft“ (veröffentlicht in: Deutscher Evangelischer Kirchentag, Frankfurt 1987. Hrsg.: Bonin, K.,von; Stuttgart: Kreuzverlag, 1987, S. 432-437).

Auf der Veranstaltung des Forums waren wir nach einer Politiker- und Expertenrunde dran, deren Salbadereien von den 3000 Zuhörern im Saal mit einem Kirchenlied vorzeitig beendet wurde. Die Stimmung war aufgeheizt. Als wir drei dann anfingen, unseren Text in verteilten Rollen vorzutragen, wurde es mucksmäuschenstill, und als wir geendet hatten, gab es ‚standing ovations‘; die Diskussion mit dem Publikum im Anschluss an die Verlesung war eine der intensivsten, die ich je erlebt habe.

Ich hatte, als es um meine Entscheidung im Kreis der Herausgeber der Neuen Sammlung ging, dieses Ereignis und diesen Text in Erinnerung, und ich konnte mir nicht mal ansatzweise vorstellen, dass ein Mensch, der diese Erklärung mit erarbeitet und öffentlich vertreten hat, in der gleichen Zeit derartige Verbrechen begeht. Ich kann mich auch nicht erinnern, je so gelinkt worden zu sein. Lothar Krappmann und Peter Fauser waren da weniger geblendet, ihnen gilt mein Respekt für die richtige Entscheidung.

Was ich heute anders machen würde? Selbst nachrecherchieren, vor Ort, und nicht nur durch eine Befragung Zweiter und Dritter. Und – an die Kollegen von der journalistischen Zunft: Das gilt für uns alle; der Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ 1999 (http://www.fr-online.de/missbrauch/odenwaldschule—fr-anno-1999-der-lack-ist-ab,1477336,2823512.html ) war deutlich genug.

 

Chiang Mai, School for Life, 14. August 2016

Mädchen und  Missbrauch

Mitte der 1980er Jahre war ich vom Goethe-Institut Manila eingeladen worden, Workshops mit philippinischen Straßenkindern (Kinderprostituierten) und Pädagogen durchzuführen. Thema: die Entwicklung von Productive Community Schools in den Slums der Stadt, ein Projekt, das eine Verbindung von ‚learning & earning‘ favorisierte. Im Vorfeld dazu hatte das Goethe-Institut junge philippinische Dokumentarfilmer darin unterstützt, mit versteckter Kamera den Missbrauch von Mädchen auf Partys philippinisch-chinesischer Geschäftsleute zu filmen. Die Aufnahmen waren schockierend. Und mein Eindruck, den ich in den Gesprächen mit sich prostituierenden Mädchen und Jungen gewann, war, dass es den Mädchen noch dreckiger ging als den Jungen. Die Mädchen reagierten mit heftigeren Symptomen zum Beispiel der Selbstverletzung durch Ritzen und durch ‚Schnüffeln‘ als die Jungen. Diese Situationsanalyse war Ausgangspunkt der Gründung von ‚Hapag Kalinga‘, eines Restaurants mit Straßenkindern Manilas, dessen Geschichte in „Das halb beherrschte Chaos“ erzählt wird.

Seit 2003, seit der Gründung der ersten School for Life, treffe ich auf Opfer des Missbrauchs, der Vergewaltigung, der Gewalt in unterschiedlichen Varianten, der Ausbeutung durch Kinderarbeit, der extremen Not. Und wieder sind es die Mädchen, die es härter treffen kann. Einer unserer Extremfälle: ein Mädchen, das mit Steinwürfen aus Dörfern vertrieben wurde und sich in der Verzweiflung und im Selbsthass die Haare ausriss. Nach meinen Erfahrungen mit den Opfern, denen wir in den Schools for Life aus dem Desaster heraushelfen wollen, steht am Anfang therapeutischer Überlegungen eine biographische, die kindlichen und kulturellen Kontexte berücksichtigende Anamnese. Bei den Kindern – und nach meinen Beobachtungen wiederum mehr bei den Mädchen – der School for Life spielt die magische Transformation des Traumas eine besondere Rolle, eine nur westlich-psychologische Analyse und Interpretation psychischer und körperlicher Verletzungen bliebe vor weitgehend verschlossenen Türen. Das Problem besteht nun darin, dass in einem Land, in dem es weniger als 100 klinische Psychologen gibt, eine individualtherapeutische Behandlung nicht machbar ist (die können sich nur Reiche leisten), deshalb die Versuche, ein therapeutisches Setting zu schaffen.

 

Chiang Mai, School for Life, 7. Februar 2017

Kleine Blütenlese

Wir hatten schon Bonny & Clyde, Cindy & Bert, Rodgers & Hammerstein, Pat Garrett & Billy the Kid, Das doppelte Lottchen, Tausch & Tausch, und nun haben wir: Oelkers & Miller.

Wenn Oelkers A sagt, sagt Miller AA. Er gibt immer noch eins drauf. Während bisher die Gleichung lautete „Hentig = Mitwisser = Täterschützer = Opferverhöhner“, heißt nunmehr eine zweite Gleichung “ Blog-Autoren = Hentig-Verteidiger = Täterschützer = Opferverhöhner“. Miller, der chilischarfe Cleaner, der mit der ganzen Mischpoke (gemeint: wir anderen Autorinnen und Autoren des Blogs) aufräumt.

Kleine Blütenlese aus „Jeder Missbrauch hat Mitwisser“

…wenn da nicht in der digitalen Welt eine Website wäre, die die Demütigung von Beckers Opfern weiter triebe.“ Das ist Quark mit Soße. Niemand der Autorinnen und Autoren demütigt Opfer. Auf nach Chiang Mai, lieber Kollege: Seit 2003 befasse ich mich dort im Team mit thailändischen Partnern mit dem Problem, diskriminierte, traumatisierte, oft auch missbrauchte Kinder der Armen aus dem Schatten zu holen und ein therapeutisches Umfeld zu schaffen, das Kinder darin unterstützt, biografische Schrottplätze hinter sich zu lassen und etwas aus sich zu machen. Da steht das Recht auf Glück zunächst einmal ganz oben an.

„In sorgfältig inszenierten Videos beteuert Hentig…“ Ich war dabei. Da ist nichts inszeniert. Es handelt sich schlicht um kurze Passagen aus etwa zweistündigen Aussagen Hartmut von Hentigs. Dem Filmemacher ist nicht zuzumuten, ohne Finanzierung eine Langfassung herzustellen. Auf die Drittmittel der Pädagogischen Hochschule Thurgau wartet er noch.

Hartmut von Hentig „…empfinde(t) keine Sorge um die Dutzende geschundenen Kinder seines Lebenspartners Gerold  Becker“. Doch, empfindet er schon. Und er würde sie gern treffen, ihnen zuhören und mit ihnen den Beitrag besprechen, den er noch leisten kann. Er hat sich allerdings mit seiner Empathie ins Schneckenhaus zurückgezogen, als er rabiaten Attacken ausgesetzt war – im Buch detailliert nachzulesen.

„…die Bemühungen gehen in die Richtung, die Kinderschändungen an der Odenwaldschule als Kollateralschaden zu verharmlosen.“ Kompletter Unsinn. Keiner denkt das. Keiner will das. Keiner macht das.

„Der eilfertig aktualisierte Blog dient einzig der Alimentierung von Mutmaßungen und der Reinwaschung.“ Das Wort „einzig“ ist die schweizerische Variante des Worts „total“: Ey, ich finde total bescheuert, was du schreibst… „Eilfertig“ verleitet zum Grübeln: Meint er mit „eilfertig aktualisiert“ den schlichten Sachverhalt, dass immer mehr Beiträge auf dem Blog ein immer vielfältigeres Meinungsspektrum darstellen? Dann wäre zumindest ein Ziel der Website, der selbstgestrickten Einheitsfront überregionaler Medien ein bisschen Paroli zu bieten, erreicht.

Do schaugst her: Miller ist auch auf dem Blog. Alfons Kleine Möllhoff schreibt, Miller habe mit seinem Text öffentliche Strafanzeige gegen die Mischpoke gestellt. Miller und ich also zusammen. Ich träume: wir beiden vor Gericht. Wenn dann der Richter nicht genau hinguckt und wir beide einsitzen müssen, dann möchte ich mit Damian die gleiche Zelle teilen, in der wir so lange über das Buch, die Reize des Kantons Thurgau und die Geschichte von Gottlieb Duttweiler reden, bis wir einer Meinung sind, uns duzen und uns zum Tag der Entlassung  Zürcher Geschnetzeltes wünschen.

 

Chiang Mai, School for Life, 6. September 2017

Antjes Rorschachtest

Der Anlass: Am 27. August 2017 veröffentlichte die Journalistin Antje Schmelcher in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag unter dem Titel „Wir üben streicheln“, in dem mir ein Zitat untergeschoben wurde, dass nicht von mir, sondern von Christoph Joseph Ahlers stammt und sinnentstellend aus dem Zusammenhang gerissen wurde, so dass auch dem Kollegen Ahlers Unrecht geschah. Ich hatte Ahlers ausführlich zitiert (im von Schmelcher monierten Wamiki-Beitrag genau so wie oben in „Hentig an den Pranger?“, Abschnitt „Kein Täter werden“). Bei Ahlers geht es um die Prävention pädophiler Verbrechen. Schmelcher machte daraus ein mir angedichtetes befürwortendes Verständnis von Pädophilie. Nun ja, zunächst mal schöne Grüße an die Schlussredaktion der FAS, die vielleicht gerade beim Angeln war, statt die Zitate zu überprüfen und solchen Unsinn zu unterbinden…

Und noch etwas: Bei Schmelcher, die ganz in McCarthy-Manier stricken gelernt hat, bin ich der „ehemalige Pädagogik-Professor Jürgen Zimmer, ein Weggefährte Gerold Beckers, des Haupttäters im Missbrauchsskandal  an der Odenwaldschule“.   Da stelle ich mir den „Weggefährten“ vor, der – in Schmelchers Hierarchie böser Wörter gleich unterhalb des „Lebensgefährten“ angesiedelt – Händchen haltend mit Mr. Becker-Hyde über den Campus der Odenwaldschule spaziert. Dass und wie es anders war, ist in meinen Beiträgen auf diesem Blog nachzulesen. Und „ehemalig“? Schon mal was von den Rechten eines Emeritus gehört? Ach, Antje! Auf zum Rorschachtest!

 

 

ANTJES RORSCHACHTEST

Universität zu F, Hörsaal 1 A, Proseminar „Forensische Psychologie II“, 11.00 c.t.

Die voll besetzten Sitzreihen steigen steil an. Auftritt von Professor Wosammadenn, er bringt eine Probandin mit, Antje Sch.-McCarthy, die von mittelschweren Wähnungen geplagt wird. Er setzt sie auf einen Stuhl.

Der Professor, von den Studierenden Wosa genannt, wendet sich ans Auditorium:

„Damen und Herren, Sie erinnern sich bitte an das letzte Semester, als ich Ihnen den Rorschachttest vorführte: Tafeln mit Klecksografien, die zu Projektionen einladen. Erst deuten die Probanden die Tafeln, danach deutet der Psychologe die Klienten. Ich zeige Ihnen nochmal eine der Tafeln.“

Wosa projiziert einen Klecks an die Wand. „Was könnte das sein?“

Zurufe aus dem Auditorium: „Zwei Krokodile, die sich beißen!“ – „Ein Mann mit einem großen Ichweißnichtwas!“ – „Ein kaputter Teppich!“ –  „Zwei Küchenschaben fressen Käse!“

Wosa: “ Hm, hm, ziemlich bedenklich, was Sie da sehen!“ Er löscht den Klecks, stattdessen erscheint ein Foto auf der Leinwand. Zwei Jungen auf einem großen Bett sind zu sehen.

Wosa, zur Klientin A. gewandt: „Was ist da los?“ A.: „Was ganz Schlimmes…die Eltern… oh Gott wie furchtbar…die armen Kinder…traumatisiert…“

Laute Zurufe aus dem Saal: „Hast du nicht alle?“ – „Das sind zwei Jungen, die herumgetobt haben!“ –  „Der eine hat was abgekriegt und greint, der andere pennt!“

Wosa: „Ruhe!! Die Patientin wähnt was sie sieht…äh… sieht was sie wähnt!“

Der Professor projiziert nun einen längeren Text an die Wand. Oben drüber steht die Quelle: Es ist das Buch von Christoph Joseph Ahlers, der im Jahr 2005 am Institut für Sozialwissenschaft der Berliner Charité für Pädophile unter dem Motto „Kein Täter werden“ das Präventionsprojekt „Dunkelfeld“ mitbegründet hat. Das Buch heißt „Himmel auf Erden und Hölle im Kopf“ und erschien 2015.

Wosa spricht zu A. : „Von wem ist der Text?“

A.: „Von Jürgen Zimmer!“

Zuruf aus dem Saal: „Quatsch, der zitierte Text ist von Ahlers! Siehst Du die An- und Abführungszeichen nicht?“

A.: „Nein, sehe ich nicht!

Wosa: „Kommilitoninnen und Kommilitonen, das ist sensationell! Während im Rorschachtest etwas hineinprojiziert wird, projiziert die Probandin hier etwas hinaus! Die Anführungszeichen verschwinden aus ihrem Bewusstsein. Sie will unbedingt, dass der Text von Jürgen Zimmer stammt.“

Zuruf: „Hat sie ihn so gern?“

Wosa: „Nein, sie kennt ihn nicht und mag ihn nicht.“

Eine Studentin zu A.: „Ich versteh‘ dich nicht. Ist auch egal. Was bei dir im Kopf durcheinander geht, ist dein Problem.“

A. hört nicht mehr zu. Im Auditorium hat sie eine Studentin mit zerzaustem Haar entdeckt. Ihr Blick erstarrt.

„Nun denkt sie“, sagt Wosa, „wieder etwas Schlimmes.“ Er geleitet sie sanft nach draußen. Einer ruft ihr nach: „Hör mal, wenn am nächsten Sonntag Wahlen wären, wen würdest du wählen?“

A. wacht wieder auf: „…die Af…“

„Ruhe!!“ ruft Wosa, „die Veranstaltung ist zu Ende!“

 

*Die Zitate von Christoph Joseph Ahlers sind entnommen aus:
Christoph Joseph Ahlers mit Michael Lissek: „Himmel auf Erden und Hölle im Kopf. Was Sexualität für uns bedeutet.“ Erschienen bei Goldmann, München 2015.

5Kommentare

  1. Salman Ansari

    Lieber Herr Zimmer,
    Sie haben fleißig gearbeitet. Nach der Lektüre Ihres Opus ist mir noch einmal klar geworden, dass das Prädikat: „Eyes wide shut“ besonders auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten einiger Erziehungswissenschaftler zutrifft. Sie verlieren viele Worte, scheuen den Zynismus nicht. Sie verwenden eine Sprache, die sich weigert, über das Schweigen zu sprechen. Beharrlich haben Sie geschwiegen, als es darum ging, Partei für die Schutzbefohlenen zu ergreifen.
    Jetzt reden Sie atemlos daher und oft ist Ihr Duktus bemüht, das müheselig erreichte Bewusstsein über die wahren Zusammenhänge Odenwaldschule und Herrn Hentig betreffend zu untergraben. Sie ergreifen vehement Partei für Herrn Hentig und sind darum bemüht, seine „Pädagogik“ von der Person und seinen Bekenntnissen zu trennen. Dabei stand die Person Hentig durch seine Rhetorik bzw. der Poetisierung der Pädagogik im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Herr Hentig scheute kein Pathos, keine Larmoyanz, wenn er über das Leiden der Kinder, zugefügt durch die Schule, Eltern und Gesellschaft, sprach oder schrieb. Mir waren seine Ergüsse stets peinlich. Aber sie wurden als Reformpädagogik verkauft und angenommen. Unter vielen Hypothesen, die Herr Hentig formuliert hat, ist auch folgende:
    „Die Schule mache die Kinder sozial unfähig/ gestört/ krank.“
    Die Schule in der Gestalt von Odenwaldschule unter Herrn Becker pries Herr Hentig als eine Schule, die Kinder stärke, diese wieder gesund mache. Genau das Gegenteil war für sehr viele Kinder der Fall.
    Seine eigene „Bielefelder Schule“, errichtet mit ungeheurem finanziellen, personellen Aufwand, pries er ebenfalls als ein Laboratorium, wo man Kindern die Freiheit ermögliche, sich selber zu entdecken. Ich habe die Bielefelder Schule kennengelernt und habe mich gefragt, was denn das Besondere daran sei. Das Besondere war, wie sich diese Schule der Öffentlichkeit präsentierte. Die Banalität aus meiner Sicht war, die schlechte Unterrichtsqualität und der Mangel an wirklich innovativen pädagogischen Vorgehensweisen, die als übertragbar auf die öffentliche Schule hätten sein können:
    Der Kaiser hatte keine Kleider an – und dennoch priesen alle seine Kleider.
    Diese Art der Öffentlichkeitsarbeit beherrschte auch Herr Becker virtuos. Immer wenn er seinen Mund aufmachte, wurde die Lüge ein Meister aus Oberhambach.
    Im Kontext von Whitehead ist die Pädagogik von Herrn Hentig den Beweis ihrer Nutzbarmachung schuldig geblieben. Für Alfred North Whitehead zielt Erziehung und Bildung auf den Erwerb von „gedanklicher Aktivität, Empfänglichkeit für Schönheit und Gefühle der Menschlichkeit.“
    Von dieser Art der „Kultiviertheit“ sind aus meiner Sicht viele deutsche Erziehungswissenschaftler weit entfernt. Sie, Herr Zimmer, liefern den Beweis dafür.

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  2. Hans Brügelmann

    Jürgen Zimmer schreibt , dass auf seine Anfrage ein Drittel der Angeschriebenen nicht geantwortet hat. Ich gehöre zu ihnen. Der Grund ist einfach: Mir ging es beim Lesen von Hentigs drittem Band wie bei den bekannten Kippbildern, in denen man je nach Blickwinkel eine andere Figur erkennt. Diese Unsicherheit meiner Eindrücke hat mich schreibunfähig gemacht. Umso dankbarer bin ich für Zimmers Beitrag, in dem ich diese Ambivalenzen aufgehoben finde. Nachdenklichkeit statt Empörung – das zeichnet ihn aus und sollte sechs Jahre nach den erschütternden Berichten aus der Odenwaldschule eigentlich die Regel sein.
    Ich wünsche Hentigs Buch viele Leser*innen. Vor allem solche, die es zum Anlass nehmen, auch über sich selbst nachzudenken. So wie es der inzwischen 90jährige Hentig in diesem dritten Band seiner Autobiografie gemacht hat. Man muss ihm nicht zustimmen in seiner Sicht auf die Dinge, aber man sollte sie ernst nehmen als einen Versuch, den Blick zu weiten. Mich jedenfalls hat die Lektüre zum zweiten Mal verunsichert. 1999 war für mich unvorstellbar, dass Gerold Becker in seinen Beziehungen zu Schüler*innen die rote Linie überschritten hatte – umso stärker plagten mich danach Selbstzweifel ( http://www.blickueberdenzaun.de/images/stories/page/downloads/brue11.oso.komm.pdf ). 2010 konnte ich mir nicht vorstellen, dass Hartmut von Hentig nicht mitbekommen haben soll, was seinem engen Freund vorgeworfen wurde. Seine Darstellung dazu, vor allem dass Becker ihm bis heute ein Rätsel ist, finde ich glaubwürdig – auch weil er eingesteht, Fehler gemacht zu haben.
    Und, wie Zimmer zu Recht schreibt, die Lektüre von Hentigs Selbsterforschung sollte auch Anlass sein, sich den eigenen Schwächen und Fehlern zu stellen, statt sich nur über die der anderen zu empören. Wichtig finde ich vor allem Hentigs Versuch, die Eindimensionalität der bisherigen Erklärungsversuche aufzubrechen und verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen zu halten, die bisher monolithisch neben- und gegeneinander stehen, auch wenn keine Gerold Beckers Verhalten rechtfertigt: war er ein kühler Stratege, der seine Pädagogik und deren Praxis gezielt als Instrument genutzt hat, um seine persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen; war GB ein emotionales „Monster“; hatte er eine gespaltene Persönlichkeit; war er ein engagierter Pädagoge, aber schwacher Mensch, der mit seinen Trieben nicht fertig geworden ist, selbst unter ihrer Gewalt gelitten hat; hat GB zwar seine Verantwortung gegenüber Abhängigen nicht wahrgenommen und seine Verliebtheit selbstbezogen ausgelebt, hat er aber die Jugendlichen nicht vergewaltigen wollen? Ich bin da selbst inzwischen unsicherer als noch 2010/11. Entscheiden lässt sich zwischen diesen Vermutungen im Nachhinein wohl nicht mehr, und ich stimme Hentig zu, dass ein unabhängig organisiertes Verfahren die einzige Möglichkeit gewesen wäre, hier etwas Klarheit zu schaffen. Trotz Verjährung hätte ja noch die Chance bestanden, wenn GB gegen die Hauptanschuldiger Klage auf Unterlassung ihrer Behauptungen eingereicht hätte. Jetzt müssen wir damit leben, dass jeweils in sich stimmig scheinende Erklärungen nebeneinander bestehen, wobei mich nach wie vor die Neigung zu Schwarz-Weiß-Bildern besorgt – zumal sie im Blick auf zukünftige Situationen zu simple (Schein-)Lösungen suggerieren (was mich schon 2010/11 besorgt hat: http://www.blickueberdenzaun.de/images/stories/page/texte_aus_dem_buez/brue.11.refpaed_sex_gewalt.110919.pdf ). Komplexität und Ambiguitäten werden hier fahrlässig reduziert – selbst in Oelkers umfangreichem Buch aus diesem Frühjahr. Gerade von einem Wissenschaftler hätte ich ein (selbst-)kritischeres Vorgehen erwartet; insofern war sein Band eine große Enttäuschung: keine ergebnisoffene Untersuchung der Befunde, sondern eine Eindeutigkeit suggerierende Suche nach Bestätigung vorweg feststehender Urteile – mit präzisen Quellennachweisen für Belanglosigkeiten (wie Grundbucheintragungen) einen Seriositätsanschein solider Recherche erzeugend, in den inhaltlich entscheidenden Punkten aber auf Vermutungen und Suggestion setzend. Da ist Hentig in seiner Ratlosigkeit redlicher. Und es verdient hohen Respekt, wie er sich den Vorwürfen und Anklagen trotz oft persönlich verletzender Form stellt und ihre Berechtigung sachlich zu klären versucht.
    Aber auch mit seinem Text habe ich Schwierigkeiten. So schätze ich Tanjev Schultz und sein Verhalten nach dem Interview 2010 anders ein als er, weil ich Schultz in der damaligen Situation dieselbe Ratlosigkeit zugestehe, die Hentig nach den Enthüllungen aus der Odenwaldschule für sich beansprucht; mich irritieren stark seine Erwartungen an mehr Wehrhaftigkeit der Opfer und ich finde, dass seine Kritik an der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Andreas Huckele übersieht, wie schwierig die Situation für diesen als betroffenen Jugendlichen war und auch heute als Erwachsenen ist; und ich verstehe nicht, dass seine „ungehaltene Rede“ zum Abschied von Gerold Becker die Brüche in dessen Persönlichkeit und Leben nicht thematisiert.
    Aber diese Vorbehalte sollten nicht den Blick verstellen auf das, was man aus der Lektüre lernen kann: „in dem Täter auch den Menschen zu sehen“ – nicht zuletzt, um in der bitter notwendigen Prävention zukünftig erfolgreicher zu sein als bisher. Das ist schwierig, will man nicht jede fürsorgliche Zuwendung zu Kindern unmöglich machen. Das Beispiel GB zeigt eindringlich: Menschliches (Fehl-)Verhalten ist von außen nicht eindeutig zu erkennen – weder von Dritten noch von den Betroffenen. Und wer abhängig ist, kann nur Schutz suchen, wenn er vertraut. Genau dieses Vertrauen aber ist der Mantel des Missbrauchs. Eine Falle, die durch simple Rezepte wie Oelkers‘ „keine Nähe in der Pädagogik“ nicht aufzuheben ist – ob in der Familie, in der Schule oder andernorts. Wie Hentig richtig schreibt: Prävention darf Pädagogik nicht unmöglich machen. Wir brauchen eine Balance von Vertrauen und Kontrolle, die versteckte Gewalt unwahrscheinlicher macht. In der Odenwaldschule fehlte sie. Wer aber glaubt, in sozialen Beziehungen Sicherheit garantieren zu können, fällt weit hinter den Reflexionsstand von Hentigs Buch zurück.

    hans brügelmann, 25.8.2016

    Antworten
  3. Salman Ansari

    Salman Ansari

    „ Die Unfähigkeit zu trauern“

    Ich habe nur die Seiten, die Andreas Huckle betreffen, im Buch von Herrn Hentig gelesen. Noch mehr hätte ich nicht lesen können. Mir stockte der Atem.
    Allein diese Seiten sind ein bedeutsames Dokument, um authentisch zu erfahren, wie Herr Hentig es mit allen Mitteln versucht, Andreas Huckele zu deskreditieren.
    Es geht gar nicht darum, ob Herr Hentig etwas von den Verbrechen, begangen von seinem Freund, den er als den deutschen Rousseau bezeichnet hat, gewusst haben könnte. Vielmehr muss man sich immer wieder vergegenwärtigen, dass solange Herr Becker lebte, Herr Hentig bedingungslos auf seiner Seite stand; ja sogar versucht hat, die missbrauchten Kinder als Verführer zu verdächtigen. Genau diese geistige Haltung überschattet alle Seiten seines Buches, und es sind nicht wenige, die seine Sicht auf Andreas Huckele erhellen. Ein Gelehrter, dem nachgesagt wurde, sein Herz schlüge für die Heranwachsenden, verweigert ihnen jedwede Empathie und versucht, sich zu verteidigen.
    Als 1999 die Vorwürfe der Betroffenen bekannt, und durch die erste Veröffentlichung in der FR einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurden, ist Herr Hentig nicht auf den Gedanken gekommen, die Betroffenen einzuladen und ihnen zuzuhören. Er war nicht bereit, mit Eigeninitiative Klarheit zu gewinnen, und „Sachen zu klären.“
    Die anderen illustren Erziehungswissenschaftler haben sich ebenfalls in das Reich des Schweigens geflüchtet. Fast zehn Jahre lang konnte Herr Becker, trotz der FR- Veröffentlichung, unbehelligt Reden halten, publizieren und sich überall als den großen Pädagogen feiern lassen, begnadet mit einer unvergleichlichen Gabe, Kinder zu verstehen.
    Der grandiose Bluffer konnte sich sicher fühlen.
    In dieser Zeitspanne habe ich 32 Briefe an verschiedene Personen, Institutionen, Zeitschriften und Hörfunk, die Herrn Becker als Redner oder Teilnehmer an einer Diskussion einluden, geschrieben und damit versucht, sie über den wahren „Pädagogen“ aufzuklären. Nur in einem Fall habe ich Antwort von Frau Antje Vollmer bekommen, eine abweisende. Dagegen mehrere Drohungen, mich als Verleumder zu verklagen.
    Ich habe mehrere Personen, die ebenfalls publizierend oder redend in Sachen „Kinder“ unterwegs waren, über die Verbrechen von Herrn Becker berichtet. Erstaunlich viele wussten zu meinem Entsetzen schon Bescheid, doch niemand war bereit, die Stimme für die betroffenen Jugendlichen zu ergreifen.
    Nicht nur in diesem Fall wird deutlich, wie sehr die Theorien über die Pädagogik, die Bekenntnisse vieler Reformpädagogen, das Wohl des Kindes betreffend, einander widersprechen.
    Und nun schreibt Herr Brügelmann eine Kritik, die sich scheut, Dinge beim Namen zu nennen. Er ist immer noch in Ambivalenzen verfangen. Die Verbrechen von Herrn Becker, bezeichnet er als das Überschreiten einer roten Linie, und verharmlost damit die seelische Verstümmelung der Betroffenen.
    Hat Herr Brügelmann jemals den Versuch unternommen, von Angesicht zu Angesicht mit einem Betroffen zu sprechen, in Erfahrung zu bringen, was es heißt, sexuell missbraucht worden zu sein. Was es heißt ein Leben lang am Rande des Abgrunds zu stehen?
    Mir ist das Ausmaß des Leidens der Betroffenen in seiner erschreckenden Breite erst durch die Begegnung mit ihnen richtig bewusst geworden.
    Herr Brügelmann ist verunsichert. Doch er verrät uns nicht, aus welcher Quelle seine Verunsicherung sich nährt.
    Er lobt Hentig, weil dieser sein Fehlverhalten eingesteht. Kann man wirklich hier von Fehlverhalten sprechen? An dieser Wortwahl erkennt man das Unvermögen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
    Im Artikel von Tanjev Schultz vermag er seine Ratlosigkeit zu entdecken, dabei spricht aus jedem Satz von Tanjev Schultz nacktes Entsetzen über das Verhalten des Gelehrten.
    Herr Brügelmann bekundet, dass er es nicht unterlassen könne, in dem Täter auch einen Mensch zu sehen. Damit versucht er uns zu belehren, als würden wir dies vermeiden. Natürlich handelt es sich um den Menschen Becker, der unbehelligt Verbrechen an Jugendlichen begehen konnte, stets im Aufwind des Lobes und der Huldigungen, dargeboten von unzähligen deutschen Pädagogen, Journalisten, Politikern und dergleichen mehr .
    Herr Brügelmann, zusammen mit Gleichgesinnten bevorzugte es, hinter dem Zaun einer Ideologie zu verweilen. Darüber hinaus zu blicken konnte er nicht, was auch sein Kommentar nahe legt. Er ist dabei nicht der Einzige.
    Es war wichtig, dass der Verlag dieses Dokument der Verblendung publiziert hat. Denn es dient der Wahrheitsfindung.
    Einige Kritiker fühlen sich angewidert von dem Namen des Verlages. Dies ist ungerecht. Denn als der Verlag sich für diese Namensgebung entschied, konnte niemand ahnen, dass Herr Hentig noch einmal so beherzt und gewaltig ausholen würde, um sich zu rechtfertigen.

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  4. Prof. Dr. Marianne Horstkemper

    Marianne Horstkemper
    Statt Denkmalsturz lieber Lernchancen
    „Meinst Du im Ernst, dass man heute noch Hentig zitieren kann?“ wurde ich kürzlich – mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme – gefragt. Meine Rückfrage, was inhaltlich gegen den zitierten Text spreche, wurde weggewischt – wer sich selbst so ins Aus manövriert habe, der habe doch jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit verspielt.
    Es war voraussehbar, dass die Veröffentlichung von Hartmut von Hentigs drittem Band seiner autobiografischen Erinnerungen und Kommentare eine neue Welle hitziger Debatten auslösen würde. Nicht voraussehbar war, dass Leserinnen und Leser mit vernichtender Kritik bereits konfrontiert wurden, bevor sie überhaupt die Gelegenheit hatten, sich selbst ein Urteil zu bilden – deutlich vor der Auslieferung des Buches. Und auch die Vehemenz der Empörung derjenigen, die sich so sicher sind, auf der (einzig) „richtigen Seite“ zu stehen, hätte ich mir so nicht träumen lassen – die Beschimpfungen des Verlages, der sich zur Veröffentlichung des Manuskripts bereitfand, das Ausmaß neuerlicher Bedrohungen des Autors, die Verächtlichmachung und denunziatorische Verzerrung von Positionen derjenigen, die in einen öffentlichen Diskurs eintreten.
    Gewiss – allein der Umfang von weit über tausend Seiten macht die Frage verständlich, ob und wie genau dieses Buch eigentlich gelesen wurde. Es ist sicherlich leichter, seinen Duktus wahlweise als bildungsbürgerlich-arrogant oder aber selbstgerecht-weinerlich zu etikettieren, als sich der Anstrengung zu stellen, höchst komplexe Argumentationen zu analysieren, akribische Richtigstellungen nachzuvollziehen und sich dabei auf die Möglichkeiten unterschiedlicher Lesarten und Deutungen einzulassen. Eben dies wird einem bei der Lektüre abverlangt und auch ermöglicht. Man muss schon ignorant oder aber böswillig sein, wenn man Hartmut von Hentig eine „Verhöhnung der Opfer“ vorwirft oder mangelnde Distanzierung von Missbrauch und Festhalten an einer „Opfer-Täter-Verschiebung“.
    Ich lese den Text eher so wie Hans Brügelmann in seiner hier dokumentierten Stellungnahme: als Ausweis einer intensiven Auseinandersetzung mit widersprüchlichen und schmerzhaften Erfahrungen – einschließlich der Frage des eigenen Anteils an dieser Entwicklung. Michael Fier hat das in seiner ebenfalls hier nachzulesenden Rezension auf die Formel gebracht: „und dann plötzlich steht man dabei und sieht Hentig zu – beim Lernen.“ Ich selbst sehe sein Buch eher als eine Anstiftung zu eigenem Lernen, als Chance zu nachdenklicher Differenzierung und zur Klärung der eigenen Position.
    Die eingangs schon angesprochene Frage nach der Glaubwürdigkeit steht in vielen Diskussionen im Vordergrund. Und auch Hartmut von Hentig bezeichnet ihren Verlust als stärkstes Unglück für sich selbst. Bis auf wenige Freunde habe ihm kaum jemand abgenommen, dass er wirklich ahnungslos gewesen sei. Andererseits müsse er sich aber vorhalten, „dass auch ich anderen Menschen – den anklagenden Opfern – die Glaubwürdigkeit verweigert habe“ (S. 966). Er könne seine Zweifel nicht einfach „abwürgen“, aber er lasse sie auch nicht ungeprüft stehen. Nach intensiver Beschäftigung mit Schicksalen von Missbrauchsopfern könne und wolle er keinesfalls leugnen, dass es für Betroffene schwer traumatisierende Situationen gegeben habe.
    Dass die Betroffenen selbst und auch diejenigen, die sich als ihre Interessenvertretung sehen, dies eher als weitere Provokation und nicht als Ausdruck von Nachdenklichkeit begreifen, wird in vielen Äußerungen und Aktionen deutlich. Die Fronten scheinen unüberbrückbar. Keine explizite Verurteilung sexueller Gewalt scheint explizit genug zu sein, keine Äußerung zu den Opfern hinreichend empathisch. Verständigung oder gar Versöhnung scheinen ausgeschlossen.
    Kann man darauf hoffen, dass – wie hier in verschiedenen Kommentaren immer wieder angesprochen wird – das pädagogische Lebenswerk des Autors und die davon beeinflusste pädagogische Praxis einen solchen Brückenschlag zustande bringen könnte? Ich bin nicht sicher. Aber seit 1980 habe ich in Lehrerbildung und Schulforschung, in der Zusammenarbeit mit reformorientierten Schulen und auch und gerade als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Laborschule Bielefeld erlebt, wie lebendig sich Schulen in der kritischen Auseinandersetzung mit Hentigs Konzepten und Anregungen entwickeln können. Dazu gehört es, dass Lehrkräfte forschend ihr eigenes Handlungsfeld aufklären und reflektierend gestalten, dass aber auch Schülerinnen und Schüler selbstbewusst ihre Lern- und ihre Lebensprobleme in die eigene Hand nehmen. Eines der vermutlich am häufigsten wiederholten Hentig-Zitate dürfte die programmatische Formulierung sein: Die Menschen stärken, die Sachen klären. Das ist ein unabschließbares Projekt, eine Zielsetzung, die mit sich wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen immer wieder neu konkretisiert werden und der man sich immer wieder neu annähern muss.
    Kann man ein solches Konzept heute noch zitieren? Man kann und sollte. Vor allem wünsche ich mir, dass es mit langem Atem und gegen viele Widerstände umgesetzt wird – so wie das viele reformbereite Schulen tun. Was dagegen völlig verzichtbar ist: den Inspirator und Anreger zunächst auf einen Sockel zu stellen und später dann mit gleicher Intensität wie der früherer Hosianna-Rufe den Sturz des Denkmals zu fordern. Man muss mit seiner Art der Reflexion nicht in allen Aspekten übereinstimmen – aber Respekt vor einer solchen Intensität der Auseinandersetzung mit einer existentiellen Erschütterung ist wohl das Mindeste, das man erwarten sollte.

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  5. Dieter Windel

    Lieber Herr Zimmer,
    Ihr analytischer und Zusammenhänge erklärender Text ist für mich von großer persönlicher Bedeutung.
    Nach vielen Jahren verzweifelter Sprachlosigkeit beim Lesen der Berichte über das Verhalten
    von Gerold Becker während seiner Tätigkeit an der Odenwaldschule und der vermuteten Kumpanei durch Hartmut von Hentig kann ich durch Ihren Beitrag Erklärungen finden.
    Meine Betroffenheit hat folgende persönliche Gründe: zwischen meinem 15. und 20. Lebensjahr (nunmehr bin ich 71) war für mich Gerold Ummo Becker eine absolute Lichtgestalt.
    In unzähligen Gesprächen hat er mir u.a. geholfen die unschöne Scheidung meiner Eltern zu bewältigen. Auch ganz lebenspraktische Dinge wie (illegale)Autofahrübungen oder die Vermittlung einer Lehrstelle habe ich ihm zu verdanken. Seine Großherzigkeit und sein Verständnis haben meine Lebensphilosophie geprägt.
    Auch mein späteres Lehramtsstudium geht auf seinen Einfluß zurück. Während dieses Studiums in Göttingen lernte ich Professor von Hentig kennen, was mich auch noch motivierte zusätzlich ein Studium der Erziehungswissenschaften zu absolvieren.

    Obwohl ich in späteren Jahren die hauptamtliche pädagogische Tätigkeit beendete und einen
    anderen Berufsweg eingeschlagen habe, sind diese beiden Personen für mich Säulen meiner Lebensgeschichte.
    Diese Schilderung ist sicherlich absolut parteiisch, soll aber alle Kritiker der benannten Personen auch auf den charismatischen und niemals herabzuwürdigenden Einfluß dieser Männer in ihrer pädagogischen Arbeit hinweisen.
    Selbstverständlich kann und will ich nicht das Verhalten Gerold Beckers als Schulleiter schön reden oder gar nachträglich tolerieren, aber Ihre Deutung der möglichen psychischen Ursachen und Beweggründe des „Monsters“ Becker hat mir sehr geholfen.
    Zwar geht es bei Ihren Anmerkungen hauptsächlich um den Umgang mit Hartmut von Hentig, aber vielleicht kann ich die ja mehr akademische Debatte um dessen Wirken und Lebensleistung mit meiner kleinen Lebensgeschichte illustrieren.

    Dieter Windel, Dipl.Päd.

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