Vorläufiges, Unvollständiges und Unsystematisches zu Hartmut von Hentigs Biographie, Teil III von HANS-MARTIN ZÖLLNER, ZÜRICH:
„Die Lektüre entzückt. Sie bereichert; sie bildet; sie macht gelassen. Sie ist viel mehr als die Autoapologie eines medial (Vor-)Verurteilten“, schreibt Hans-Martin Zöllner.
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Vorläufiges, Unvollständiges und Unsystematisches zu Hartmut von Hentigs Biographie Teil III
„Ich hab‘ unendlich viel erlebt“: Das ist der Titel der Autobiographie von Gottfried von Einem, dem österreichischen Komponisten (Ibera & Molden Verlag, Wien 1995). Genau so könnte auch die Gesamtautobiographie von Hartmut von Hentig lauten, deren letzter Band soeben erschienen ist („Noch immer Mein Leben – Erinnerungen und Kommentare aus den Jahren 2005 bis 2015, Was mit Kindern GmbH, Berlin 2016). Band I und II seiner Autobiographie erschien in einem Band unter dem Titel „Mein Leben – bedacht und bejaht“ im Beltz-Verlag, Weinheim 2009. Insgesamt 2500 Seiten – ein Kompendium über fast ein Jahrhundert Jahre – eine Zeitgeschichte, eine Lebensgeschichte und eine Geschichte über Freuden und Leiden, über Irrungen und Wirrungen.
Hartmut von Hentig (ab hier: HvH) widmet den hier anzuzeigenden Band seinen Freunden, seinen Kritikern und seinen Feinden. Freunde hatte er viele; im vergangenen Lebensjahrzehnt erwies sich, wer wirkliche Freunde waren. Kritiker hatte er sein Leben lang; oberflächliche und tiefsinnige. Feinde hatte er bis zu den Ereignissen, die er selbst „Götterdämmerung im Odenwald“ nennt, keine; nachher zahlreiche. Feindschaften wirken offenbar ansteckend.
Was enthält „Noch immer Mein Leben“, wenn man (auf)zählt? 1400 Seiten in 20 Kapiteln, von denen sich 600 Seiten mit dem Odenwaldschulskandal (OWS) befassen; es bleiben 800 Seiten über Reisen, Bücher, Filme, die Geschwister, Politik, buchstäblich über Gott und die Welt. 30 Seiten Namensverzeichnis und 100 Seiten Anhang mit Materialien kommen noch dazu. Ein gewaltiges Panorama eines Dezenniums, welches das Leben HvHs veränderte wie keines der vorangegangenen.
Warum „Mein Leben“ mit Kapitale des Pronomens und nicht „mein Leben“? Nun – immer noch „mein L e b e n“, da Teil III die Teile I und II fortsetzt und vervollständigt, vielleicht abschließt. Und „M e i n Leben“, denn es ist seines, das man ihm streitig gemacht hat, für welches er sich „gefälligst“ rechtfertigen sollte. Aber es ist nur seines, sein Leben – so wie unser Leben unseres ist. Auf Seite 1133 schreibt HvH: „In meinen Memoiren darf es um meinen Part gehen.“ Er schreibt „Part“, nicht „Partei“.
Gegen Autobiographien kann man Grundsätzliches einwenden. Der Vorwurf „Alles nur Pro-domo-Argumentationen“ steht immer drohend im Raum; wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Schwerer wiegt der Vorwurf der Eitelkeit des Autors (heute nennt man das pseudopsychiatrisch: „Narzissmus“) und seiner Selbstgerechtigkeit. Diesen Vorwurf reflektiert HvH immer wieder, beispielsweise auf Seite 253: „Wann endlich gibst du die zeitraubende Bemühung um Ansehen, Zugehörigkeit, Rechtbehalten, Erfolg auf?“ Wie viele Autobiographen unserer und früherer Zeiten haben einen solchen Satz geschrieben? Weiteres akribisch Selbstforschendes steht auf den Seiten 1205/1206. Auch hielt ihm eine Kritikerin der ersten beiden Bände vor, er sei ein „Adabei“. Ein Adabei ist kein verbalhornter Adebar, sondern ist ein „Auch-Dabei“ – einer, der ganz viele Berühmtheiten kennt, die ihrerseits auch wieder viele Berühmtheiten kennen… Ach Gott, HvH hat es wahrlich nicht nötig, mit seinen Bekanntschaften zu prahlen. Sie sind da, es gibt sie, sie sind zahlreich, und sie erstehen lebendig vor unserem geistigen Auge. So what.
Auf Seite 1228, und dies sei die letzte Bemerkung zu Einwänden gegen Autobiographien im Allgemeinen und die von HvH im Besonderen, steht folgendes: „Der Autor der 700 Seiten, auf denen ich die Vorstellungen der Öffentlichkeit von Gerold Becker und seinem Freund zu korrigieren versuche, ist kein besessener Rechthaber. Die übrigen 1000 Seiten bezeugen das und stellen ein Gegengewicht dazu dar, weshalb ich die einen nicht von den anderen trennen lasse.“ (Eine andere Paginierung, Anm. HMZ)
Die Wenigsten von uns werden die Geduld aufbringen, 1400 Seiten HvH zu lesen. Sehr genau werden das Buch natürlich die lesen, die ihre Vorurteile gegenüber dem Autor bestätigt haben und die ihn bei Unzulänglichkeiten ertappen wollen. Den anderen, die ihn wirklich kennenlernen wollen, empfehle ich, bei dem Riesenwerk hinten anzufangen. Kapitel 20: „Die vier Himmelsrichtungen“. Ob HvH hier Geographisches oder Eschatologisches mitzuteilen hat, muss man schon selbst entdecken…Wer nur im Pendlerzug Zeit für ein einziges Kapitel hat, lese Kapitel 18.
Ein Wort zum Sprachstil. HvH ist ein Schelm: Er wird nicht müde zu betonen, wie unzulänglich seine Sprache sei, wie ihm das Alter die Formulierungseleganz gestohlen habe. Da sage ich nur mit Loriot: „Ach was.“ Die Sprachgestaltungskunst HvHs ist auf ihrem Höhepunkt; sie war nie besser als heute. HvH ist ein kokettierender Unter- bzw. Übertreiber.
Da man keine Biographie nacherzählen kann und keinen Biographen biographieren, beschränke ich mich auf die Akzentuierung einiger weniger Charakteristika dieser Selbsterzählung, meine Paralipomena dazu sozusagen. Nicht ohne mein „Habe nun, ach – 1400 Seiten Biographie von und über HvH gelesen und bin – klüger als wie zuvor“ ausgerufen zu haben. Das Buch lohnt alle Lesensmühen (ohne ein gutes Fremdwortlexikon und ein Nachschlagewerk lateinischer Sprichwörter geht es nicht); es ist bedenkens-, beherzigens- und behaltenswert.
Denn: Die Lektüre entzückt. Sie bereichert; sie bildet; sie macht gelassen. Sie ist viel mehr als die Autoapologie eines medial (Vor-)Verurteilten.
Sie entzückt – wegen der Eleganz der Sprache und der Stupendizität der Einsichten. Beispiel gefällig? Seite 550. Dort heißt es nämlich: „…der liebe Gott hat die menschlichen Rassen geschaffen, damit die Menschen sie dann mischen: Es gibt keine schöneren Wesen auf der Welt als Mischlinge.“ Ein unerhörtes Votum für eine Willkommenskultur der anderen Art!
Die Lektüre bereichert. Sie bereichert durch die Fülle der Personen und der Schauplätze, den Reichtum und die Vielschichtigkeit der Ereignisse und Begegnungen, der Ausflüge in die Geschichte.
Die Lektüre bildet. Sie bildet, denn HvH ist Pädagoge so gut wie Andragoge, und er ist polyglotter Altphilologe. Er ist Geistes-Wissenschaftler par excellence.
Die Lektüre macht gelassen: Ein bald 100-jähriger Mann steht immer noch aufrecht trotz eines Trommelfeuers von Angriffen auf seine Lehre und seine Person und seine Treue zum Freund. Gelassen – denn wenn der Tsunami, der über ihn hereinbrach, ihn nicht ersäuft hat, was soll uns Wohlbehütete und Verschonte dann umbringen?
Die Feinde HvHs warten nun schon lange, dass ich auf den Odenwaldschulskandal zu reden komme. Ja, das muss sein. Kenntnisse über das Faktum des OWS kann ich bei den Lesern des TA voraussetzen. Der OWS wird für HvH zum Existentialium. Seine, wie manche Opfer von Gerold Becker und die meisten Medien meinen, unverzeihliche Sünde war, dass er den Kotau vor den Opfern und die Verurteilung seines Freundes nicht öffentlich ableisten wollte. Er wollte viererlei klarmachen:
Zum ersten: Er war und ist kein Mitwisser der (im Einzelfall ohne Zweifel erwiesenen) Übergriffe an der Odenwaldschule. Dass er sich gegen die mediale Lynchjustiz wehrt, kann man ihm im Ernst nicht verübeln.
Zum zweiten: Gerold Becker ist keine Unperson, kein niederträchtiger Verbrecher, kein Psychopath, kein Monster – auch wenn er Missbrauchshandlungen an Jugendlichen begangen hat. Er will dieses über ihn verbreitete Bild durch andere Bilder von ihm wieder ins Menschliche wenden. Dadurch, das betont er und das betone auch ich ausdrücklich, ist das Schändliche eines Missbrauches nicht relativiert oder gar entschuldigt.
Zum dritten: Die Reformpädagogik, so wie HvH sie versteht, ist kein Wegbereiter für Pädophile oder Pädophilie.
Zum vierten: HvH ist nicht bereit, ein Sühneopfer auf dem Altar der Medien zu bringen und seinen Freund als Freund zu verleugnen und als Mensch zu verdammen. Die Freundesliebe war ihm ein unaufgebbarer Wert auch nach dessen Tod. Die Missetaten des Freundes selbst hat er jedoch nie geleugnet. Ein Peccavi war von ihm allerdings nicht zu erlangen. Das kann man verurteilen; man sollte es mindestens respektieren und die Gründe dafür prüfen. Moralische Werte (Freundestreue versus öffentlich bekundetes Mitleid mit den Opfern) gegeneinander auszuspielen, hilft hier nicht weiter.
Welche Leser wünscht sich HvH, wünscht sich wohl auch der Schreiber dieser Zeilen?
Die Freunde werden das Buch aufmerksam und genau lesen.
Von den Feinden wünschen wir uns, dass sie es auch aufmerksam und genau lesen. Sie werden es leider nicht tun.
Von denen, die einfach neugierig auf HvH geworden sind, ohne ihn mit dem OWS gleichzusetzen, wünschen wir uns das gleiche wie von den Freunden.
Ich kann nicht schließen, ohne ein paar Worte über den Verlag gesagt zu haben, der den Mut gehabt hat, HvHs Opus magnum zu veröffentlichen (diesen Mut hatten andere Verlage, die Bücher von HvH herausgegeben haben, nicht). Der „Wamiki“-Verlag in Berlin wird von zwei Frauen geleitet: Lena und Eva Grüber. Der multimediale pädagogische Verlag wurde 2014 gegründet (www.wasmitkindern.de). Er will unabhängig sein von Universitäts- und Wirtschaftsinteressen, pädagogischen Fachverbänden und Medien und von – Politik. Wünschen wir ihm dabei Kraft, Ausdauer und Erfolg.
Hans-Martin Zöllner arbeitete mehrere Jahrzehnte als Leiter des Psychologischen Dienstes an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und lebt heute in St. Margrethenberg/ Schweiz.