# Jenseits von Schwarz-Weiß-Malereien

Aufgrund von Rückmeldungen präzisierte und erweiterte  PROF. DR. HANS BRÜGELMANN seine Stellungnahme vom 25.8.2016.
„Es ist schwierig, sich in der öffentlichen Diskussion zu Hentigs Buch verständlich zu machen, wenn man nicht die Moralkeule gegen den Verfasser schwingt … Die Lektüre von Hentigs Selbsterforschung sollte auch Anlass sein, sich den eigenen Schwächen und Fehlern zu stellen, statt sich nur über die der anderen zu empören.“ Dem Autor ging es beim Lesen von Hentigs drittem Band wie bei den bekannten Kippbildern, in denen man je nach Blickwinkel eine andere Figur erkennt …

Es ist schwierig, sich in der öffentlichen Diskussion zu Hentigs Buch verständlich zu machen, wenn man nicht die Moralkeule gegen den Verfasser schwingt. Selbst Pädagogen wie Jürgen Zimmer und Lutz van Dijk wird die Ernsthaftigkeit ihres Nachdenkens abgesprochen, obwohl beide sich seit vielen Jahren in konkreten Projekten für Kinder und Jugendliche engagieren, die Opfer von Vernachlässigung, Lieblosigkeit und Gewalt geworden sind. Ihnen wird sogar mangelndes Mitgefühl für die in der Odenwaldschule verletzten Kinder und Jugendlichen vorgeworfen. Dabei: Wer könnte glaubwürdiger als sie einen Blick unter die Oberfläche der Scheinklarheiten in der Diskussion über den Fall Becker und über die Risiken enger Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern in Institutionen einfordern? Gerade um Gewalt gegen Kinder zukünftig weniger wahrscheinlich zu machen, brauchen wir einen nüchternen Blick auf die Mehrdeutigkeit und die Ausnutzbarkeit von „Nähe“, „Zuwendung“ und „Vertrauen“ in der Pädagogik. Das ist keine Rechtfertigung für Beckers Taten, auch nicht dafür, dass er sich in Kenntnis seiner Neigungen auf das Zusammenleben mit abhängigen Jugendlichen eingelassen hat – und es entschuldigt auch nicht unsere eigenen blinden Flecke 1998, als wir den ersten Hinweisen nicht ernsthaft genug nachgegangen sind. Aber es verlangt die Bereitschaft, eigene (Vor-)Urteile in Frage zu stellen.

Mir selbst ging es beim Lesen von Hentigs drittem Band wie bei den bekannten Kippbildern, in denen man je nach Blickwinkel eine andere Figur erkennt. Diese Unsicherheit meiner Eindrücke hat mich zunächst schreibunfähig gemacht. Umso dankbarer bin ich für Jürgen Zimmers Anregung zu einem öffentlichen Diskurs und insbesondere für seinen Beitrag[1], in dem ich die von mir wahrgenommenen Ambivalenzen aufgehoben finde. Nachdenklichkeit statt Empörung, so berechtigt letztere war und bis heute ist – das zeichnet ihn aus und sollte sechs Jahre nach den erschütternden Berichten aus der Odenwaldschule eigentlich die Regel sein.

Ich wünsche Hentigs Buch viele Leser*innen. Vor allem solche, die es zum Anlass nehmen, auch über sich selbst nachzudenken. So wie es der inzwischen 90jährige Hentig in diesem dritten Band seiner Autobiografie gemacht hat. Man muss ihm nicht zustimmen in seiner Sicht auf die Dinge, aber man sollte sie ernst nehmen als einen Versuch, den Blick zu weiten. Mich jedenfalls hat die Lektüre zum zweiten Mal verunsichert. 1998 war für mich – wie für viele andere und anscheinend auch für Hentig – unvorstellbar, dass Gerold Becker in seinen Beziehungen zu Schüler*innen die rote Linie überschritten hatte – umso mehr plagten mich danach Zweifel an meiner eigenen Urteilsfähigkeit[2]. 2010 konnte ich mir nicht vorstellen, dass Hartmut von Hentig nicht mitbekommen haben soll, was seinem engen Freund vorgeworfen wurde. Seine Darstellung dazu, vor allem dass Becker ihm bis heute ein Rätsel ist, finde ich glaubwürdig – auch weil er eingesteht, Fehler gemacht zu haben.

Und, wie Zimmer zu Recht schreibt, die Lektüre von Hentigs Selbsterforschung sollte auch Anlass sein, sich den eigenen Schwächen und Fehlern zu stellen, statt sich nur über die der anderen zu empören. Wichtig finde ich vor allem Hentigs Versuch, die Eindimensionalität der bisherigen Erklärungsversuche aufzubrechen und verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen zu halten, die bisher monolithisch neben- und gegeneinander stehen, auch wenn keine davon Gerold Beckers Verhalten rechtfertigt: War er ein kühler Stratege, der seine Pädagogik und deren Praxis gezielt als Instrument genutzt hat, um seine persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen? War GB ein emotionales „Monster“? Hatte er eine gespaltene Persönlichkeit („Jekyll and Hyde“)? War er ein engagierter Pädagoge, aber schwacher Mensch, der mit seinen Trieben nicht fertig geworden ist, selbst unter dieser Schwäche gelitten hat? Hat GB zwar seine Verantwortung gegenüber Abhängigen nicht wahrgenommen und seine Verliebtheit selbstbezogen ausgelebt, die Jugendlichen aber nicht vergewaltigen wollen? Für die Opfer kann das Erleben gleich schrecklich sein. Für die Beurteilung des Täters aber macht die Wahl des Deutungsmusters aber einen Unterschied – den ja auch unser Strafrecht betont (vgl. §§ 174 ff. StGB).

Ich bin da selbst inzwischen unsicherer als noch 2010/11. Entscheiden lässt sich zwischen diesen Vermutungen im Nachhinein wohl nicht mehr, und ich stimme Hentig zu, dass ein unabhängig organisiertes Verfahren die einzige Möglichkeit gewesen wäre, hier mehr Klarheit zu schaffen. Allerdings hatte GB diese Option selbst in der Hand: Trotz Verjährung hätte ja noch die Chance einer gerichtlichen Klärung bestanden, wenn er selbst gegen die Hauptanschuldiger Klage auf Unterlassung ihrer Behauptungen eingereicht hätte. Diese Chance hat er weder 1998 noch 2010 genutzt. Jetzt müssen wir damit leben, dass jeweils in sich stimmig scheinende Erklärungen nebeneinander bestehen.

Dabei beunruhigt mich nach wie vor die Neigung zu Schwarz-Weiß-Bildern – zumal sie im Blick auf zukünftige Situationen Schein-Lösungen suggerieren, eine Reaktion, die ich schon 2010/11 als Sackgasse empfunden habe[3]. Komplexität und Ambiguitäten der Beziehungen werden in den „Monster“-Bildern fahrlässig reduziert – selbst in Oelkers umfangreichem Buch aus diesem Frühjahr. Auch für seinen Versuch einer nachträglichen Psycho-Analyse gilt die Warnung der American Psychiatric Association an ihre Mitglieder anlässlich der Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump, dass Ferndiagnosen umstrittener Persönlichkeiten nicht lege artis sind – wobei noch hinzukommt, dass Oelkers nicht einmal ausgebildeter Psychologe oder Psychotherapeut ist.

Unabhängig davon hätte ich gerade von einem Wissenschaftler  ein (selbst-)kritischeres Vorgehen erwartet; insofern war sein Band eine große Enttäuschung: keine ergebnisoffene Untersuchung der Befunde, sondern eine Eindeutigkeit suggerierende Suche nach Bestätigung vorweg feststehender Urteile –  mit präzisen Quellennachweisen für Belanglosigkeiten wie (für die Einschätzung von Becker und seinen Taten) irrelevante Grundbucheintragungen einen Seriositätsanschein solider Recherche erzeugend, in den inhaltlich entscheidenden Punkten dagegen auf Vermutungen und Suggestion setzend. Da ist Hentig in seiner Ratlosigkeit redlicher. Und es verdient hohen Respekt, wie er sich den Vorwürfen und Anklagen trotz oft persönlich verletzender Form stellt und ihre Berechtigung sachlich zu klären versucht.

Aber ich habe mit seinem Text auch immer wieder Schwierigkeiten. So schätze ich Tanjev Schultz und sein Verhalten nach dem Interview 2010 anders ein als er,  weil ich Schultz in der damaligen Situation dieselbe Ratlosigkeit zugestehe, die Hentig nach den Enthüllungen aus der Odenwaldschule für sich beansprucht; mich irritieren stark seine Erwartungen an mehr Wehrhaftigkeit der Opfer und ich finde, dass seine Kritik an der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Andreas Huckele übersieht, wie schwierig die Situation für diesen als betroffenen Jugendlichen war und auch heute als Erwachsenen ist; und ich verstehe nicht, dass seine „ungehaltene Rede“ zum Abschied von Gerold Becker die Brüche in dessen Persönlichkeit und Leben nicht mit einem einzigen Satz thematisiert. Trotzdem rechtfertigen diese Schwächen so vernichtende Pauschalurteile wie in der Stellungnahme des Betroffenenrats[4] oder in der Rezension von Pörksen in der ZEIT[5] nicht.

Diese Vorbehalte sollten auch nicht den Blick verstellen auf das, was man aus der Lektüre lernen kann: „in dem Täter auch den Menschen zu sehen“ – nicht zuletzt, um in der bitter notwendigen Prävention zukünftig erfolgreicher zu sein als bisher. Das ist schwierig, will man nicht jede fürsorgliche Zuwendung zu Kindern unmöglich machen. Das Beispiel GB zeigt eindringlich: Menschliches (Fehl-)Verhalten ist von außen nicht eindeutig zu erkennen – weder von Dritten noch von den Betroffenen. Und wer abhängig ist, kann nur Schutz suchen, wenn er vertraut. Genau dieses Vertrauen aber ist der Mantel des Missbrauchs. Eine Falle, aus der man durch simple Rezepte wie Oelkers‘ „keine Nähe in der Pädagogik“ nicht herauskommt – ob in der Familie, in der Schule oder andernorts. Wie Hentig richtig schreibt: Prävention darf Pädagogik nicht unmöglich machen. Wir brauchen eine Balance von Vertrauen und Kontrolle, die versteckte Gewalt unwahrscheinlicher macht. In der Odenwaldschule fehlte sie. Wer aber glaubt, in sozialen Beziehungen Sicherheit durch Formalität und Distanz garantieren zu können, fällt weit hinter den Reflexionsstand von Hentigs Buch zurück.

Gerade um Gewalt gegen Kinder zukünftig weniger wahrscheinlich zu machen, brauchen wir einen nüchternen Blick auf die Mehrdeutigkeit und die Ausnutzbarkeit von „Nähe“, „Zuwendung“ und „Vertrauen“ in der Pädagogik – nicht aber einen Verzicht auf „Beziehung“.

Sich darum zu sorgen, wie zukünftig die Wahrscheinlichkeit solcher Übergriffe verringert werden kann, ohne dass Schule zu einem Ort kühler Distanz wird, bedeutet doch nicht, keine Empathie für Leid in der Vergangenheit zu haben. Differenzierung heißt nicht Verharmlosung.

Es gibt nicht „den“ Päderasten. Motive und Handlungsmuster sind sehr unterschiedlich. Sie zu verstehen ist notwendig, um ihnen sozial verträgliche Lebensformen eröffnen zu können und vor allem Kinder besser zu schützen. Scheinbar einfache „Lösungen“ wie die Abschaffung des Familienprinzips sind Aktionismus. Mit so einer Forderung stellt man auch SOS-Kinderdörfer und Wohngemeinschaften mit Behinderten unter Generalverdacht, ganz zu schweigen von allein Erziehenden, in deren Haushalt schon das Vier-Augen-Prinzip nicht gewährleistet ist.

Ob höhere Zeugnisanforderungen an Pädagog*innen, veränderte Einstellungsverfahren und begleitende Supervisionen, ob Unterschriften unter Verhaltenskodizes, „Mutmacher“-Flyer für die Kinder oder das Angebot von Vertrauensleuten – es ist schwierig, eine pädagogisch noch produktive Balance von Vertrauen und Kontrolle zu finden. Und immer bleibt die Möglichkeit der Verstellung, der Lüge, der Regelverletzung aus Schwäche gegenüber situativen Versuchungen. Wer sich nicht eingesteht, dass es – sowohl rechtlich als auch moralisch – sehr unterschiedliche Tat- und Täterkonstellationen gibt und dass sie unsere Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit jeweils von Neuem herausfordern – bis hin zu unserem Versagen, und zwar nicht einfach aus Gleichgültigkeit – der befördert eine Scheinsicherheit, die erst recht gefährdet. Zumal sich Gewalt gegen Kinder nicht auf sexuelle Beziehungen und nicht auf körperliche Verletzungen beschränkt. Wenn wir nur diese in den Blick nehmen, verlieren wir die Sensibilität gegenüber dem alltäglichen Leid von Kindern in Familie, Schule und Vereinen, wo auch nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention immer noch Erwachsene ihre Machtposition gegenüber Kindern ausnutzen.

 

hans brügelmann, 15.9./25.8.2016

[1] http://noch-immer-mein-leben.de/hentig-den-pranger/

[2] www.blickueberdenzaun.de/images/stories/page/downloads/brue11.oso.komm.pdf

[3] www.blickueberdenzaun.de/images/stories/page/texte_aus_dem_buez/brue.11.refpaed_sex_gewalt.110919.pdf

[4] http://noch-immer-mein-leben.de/stellungnahme-des-betroffenenrats-zu-hartmut-von-hentigs-buch-noch-immer-mein-leben/

[5] http://www.zeit.de/2016/18/reformpaedagogik-missbrauch-hartmut-von-hentig

 

 

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