Für DR. ANNEMARIE VON DER GROEBEN und PROF. DR. SUSANNE THURN ist „eine übergriffige Pädagogik ein Albtraum, der mit allen Mitteln verhindert werden muss. Aber eine beziehungs- und lieblose Pädagogik ist ebenso ein Albtraum. Wir müssen diese schwierige Balance aushalten und zur Sprache bringen.“ Die Autorinnen „fordern alle, die Hentigs Pädagogik kritisieren oder es für angebracht halten, sie – entgegen ihrer früher vielfach bekundeten Zustimmung – jetzt totzuschweigen, dazu auf, ihre Kritik und ihre eigenen Vorstellungen zu präzisieren … Einem solchen kritischen Diskurs möchten wir uns stellen – mit allen, die dazu bereit sind, nicht pauschal zu verurteilen, sondern nachdenklich und mit dem Bemühen um Verstehen aufeinander zuzugehen.“
Zum Lebenswerk von Hartmut von Hentig gehören die Bielefelder Schulprojekte Laborschule und Oberstufen-Kolleg. Sie sind ein sehr lebendiger Teil davon. Hier kann man im täglichen Schulalltag sehen und erleben, was er gewollt und verwirklicht hat und wie die Schulen sich bis heute weiter entwickelt haben.
Wir, die Autorinnen dieses Beitrags, haben die Laborschule mit aufgebaut und über 30 Jahre lang Tag für Tag mit gestaltet. Wir kennen Hartmut von Hentig aus diesen Jahren gemeinsamer Arbeit und sind ihm, auch nachdem er von Bielefeld nach Berlin gezogen war, freundschaftlich verbunden geblieben.
Als 2010 das Ausmaß sexueller Übergriffe an der Odenwaldschule bekannt wurde, waren wir ebenso wie die gesamte Öffentlichkeit verstört und entsetzt. Die erschütternden Aussagen von Opfern ließen keinen Zweifel daran: Hier war ihnen schweres Leid zugefügt worden, hier hatten Erwachsene schwere Schuld auf sich geladen. Ein pädagogischer Super-GAU.
Wie sollte unsere Schule, wie sollten wir uns dazu verhalten? Es gab viele Gespräche und Erklärungen, an den Bielefelder Schulprojekten und überall im Land. Der Schulverbund „Blick über den Zaun“, dem die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg angehören, veröffentlichte eine „Erklärung zu sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen“, an der wir mitgewirkt haben. Darin heißt es:
Wir sind erschüttert und beschämt darüber, dass Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt auch in Schulen widerfahren ist, die sich auf unsere pädagogischen Prinzipien verpflichtet haben.
Die Achtung körperlicher und seelischer Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen ist Voraussetzung jeder pädagogischen Tätigkeit. Wir verurteilen alle Formen von psychischer und physischer Gewalt an Kindern und Jugendlichen, insbesondere sexuelle Übergriffe durch Blicke, Worte oder Taten.
(www.blickueberdenzaun.de, 2010)
Mit dieser und ähnlichen Erklärungen sind jedoch die bohrenden Fragen nicht beantwortet. In die Vergangenheit gerichtet: Wie konnte das geschehen? In die Zukunft gerichtet: Was kann und muss getan werden, um Kinder vor jeder Gewalt, insbesondere vor sexuellem Missbrauch zu schützen?
Wir haben in jahrzehntelanger Arbeit erlebt, was es heißt, eine Schule (mit) zu gestalten, der ein besonderer Auftrag in die Wiege gelegt wurde. Sie sollte nicht stehen bleiben, sondern sich auf der Suche nach pädagogischen Antworten auf immer wieder neue Fragen ständig weiter entwickeln. Basis für diese innovative Arbeit waren und sind pädagogische Grundüberzeugungen, die die Arbeit der Schulprojekte bis heute prägen. Hier werden Unterschiede bejaht, hier sollen Kinder und Jugendliche sich entsprechend ihren Möglichkeiten bestmöglich entwickeln können. Das gesamte Schulcurriculum ist auf individuelles und gemeinsames Lernen ausgerichtet. Hier soll Lernen, soweit wie möglich und sinnvoll, mit Erfahrungen verbunden sein, die dem Ernstcharakter der Sache entsprechen und zu konkretem, verantwortlichem Handeln herausfordern. Hier sollen im täglichen Umgang miteinander und in der Schulgemeinschaft die Verhaltensweisen und Werte gelebt und gelernt werden, die wir von mündigen Staatsbürgerinnen und –bürgern erwarten.
Lange vor 2010 haben beide Schulen es zu einem besonderen Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht, Elemente einer geschlechterbewussten Pädagogik zu entwickeln. Empathie und Sensibilität, Reflexion über tradierte Geschlechterrollen und die eigene Identität, getrenntes und gemeinsames Lernen, Respekt und Distanz, aber auch ein vertrautes Miteinander sollen den täglichen Umgang der Geschlechter prägen. Es gibt an der Laborschule seit langem ein gut ausgearbeitetes und in der Praxis erfolgreiches Präventionskonzept. Trotz alledem: Eine Garantie, dass Fälle von sexueller Gewalt im häuslichen oder auch schulischen Umfeld nicht vorkommen, kann auch diese, kann überhaupt keine Schule leisten. Die Laborschule tut das Mögliche: Wenn solche Fälle bekannt werden, greift sie mit allen verfügbaren Mitteln ein. Mangelnde Sensibilität und Aufmerksamkeit oder unzureichende Präventionsarbeit kann man ihr nicht vorwerfen.
Das hilft jedoch nicht, die verstörende Frage zu beantworten: Wie konnte es zu dem Super-GAU Odenwaldschule kommen, wie war das möglich? Auf diese Frage hat es seither viele Antworten gegeben. Wir können und wollen hier nicht auf alle diese Ereignisse und Diskussionen eingehen, sondern beschränken uns auf das, was uns – direkt oder indirekt – betrifft und was wir bezeugen können.
„Die“ Reformpädagogik? Oder: Sind wir im falschen Film?
Es geht in der öffentlichen Diskussion bekanntlich längst nicht mehr „nur“ um die Odenwaldschule, um das Leid der Opfer und die Schuld der Täter. Es gab weitergehende persönliche Schuldzuweisungen und System-Theorien, die das Geschehene erklären sollten. Hartmut von Hentig sah sich nach 2010 heftigsten Angriffen ausgesetzt, und ein allgemeiner systemischer Vorwurf richtet sich gegen „die“ Reformpädagogik. Da müssen wir uns mitgemeint fühlen. Wir müssen uns fragen, ob unsere Schule, die ja von Hentig gegründet wurde, dem Bild von Reformpädagogik entspricht, das sich aus vielen öffentlichen Äußerungen wir ein Mosaik zusammensetzen lässt. Unsere Antwort: Vor diesem Bild können wir nur kopfschüttelnd stehen und uns fragen, ob wir 30 Jahre lang im falschen Film gelebt haben oder ob uns hier ein falscher Film vorgeführt wird. Fakt ist: Die Wirklichkeit unserer Schule hat mit diesem Bild so gut wie nichts gemeinsam.
Die Bielefelder Schulprojekte wurden nicht, wie bekannte reformpädagogische Gründungen, irgendwo in der Natur angesiedelt, sondern ganz bewusst in einer großen Industriestadt und in unmittelbarer Nachbarschaft einer modernen Universität. Hier gab und gibt es keine Guru-Lehren, keine Geheimbündelei und auch kein Georgekreis-Geraune, sondern ein geprüftes Konzept und einen staatlich gewollten und kontrollierten Auftrag: neue Wege des Lehrens und Lernens zu erproben. Hier gibt es keine dogmatischen Glaubens-Sätze, sondern eine Praxis, die durch demokratische Beteiligung, Beobachtung und Kritik geprägt ist und in fortgesetzter Entwicklungsarbeit von den Verantwortlichen getragen wird. Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit der Erziehungswissenschaft, also, bildlich gesprochen im hellsten Licht der institutionalisierten Aufklärung. Hier gab und gibt es keine elitäre Herrschafts-Ideologie, sondern eine weitreichende und konsequent gelebte Demokratie. Entscheidungen werden im fortgesetzten Diskurs gefunden. Das ist extrem anstrengend, insbesondere in Konfliktsituationen. Gelegentlich haben wir uns bei dem innerlichen Stoßseufzer ertappt: Würde doch endlich einfach nur hierarchisch entschieden, so dass diese endlosen Debatten beendet werden könnten! Nein, es gab und gibt keine solche Macht, sondern nur den mühsamen Weg der vernünftigen Verständigung. Das Leben der Schulgemeinschaft ist allen sichtbar. Sowohl die berühmt-berüchtigte Kuschelpädagogik als auch Schwarze Pädagogik, Zynismus von Erwachsenen, demütigende Verhaltensweisen gegenüber Kindern und Jugendlichen können in einer Großraumschule nicht bestehen. Was sonst hinter verschlossenen Türen verborgen bleibt, soll sich hier unter den Augen einer zivilisierten Öffentlichkeit abspielen. Das erspart den Erwachsenen viel Kontroll- und Disziplinierungsarbeit: das Public Eye ist die wirksamste Kontrolle. Wenn Gruppen sich gegenseitig stören, wird das nicht durch ein Erwachsenen-Donnerwetter beendet, sondern miteinander ausgehandelt. „Bewegliche Regelung gemeinsamer Angelegenheiten“ – das ist Hentigs Definition von Politik. Für ihn ist Erziehung immer auch politische Erziehung („Nie wieder ein zweites 1933“). Schon sehr kleine Kinder lernen und erfahren in der täglichen Versammlung ihrer Gruppe, wie das gemeinsame Leben friedlich und verantwortlich von allen gestaltet werden kann. – Natürlich gibt es in diesem Konzept Berührungspunkte zur reformpädagogischen Tradition. Aber Hentig hat es bewusst in kritischer Distanz zu den bekannten „Gurus“ und deren Gründungen entwickelt und sich selbst nie als Reformpädagogen bezeichnet.
Es ist nicht unsere Sache, Studien über die historische Reformpädagogik zu beurteilen. Aber das Konzept und die Praxis der Laborschule kennen wir sehr genau. Auf der Grundlage dieser jahrzehntelangen Erfahrung sagen wir: Es ist unfair und unhaltbar, Hentig als Person und seine Pädagogik in eine Linie zu stellen, die von Reformpädagogik über Odenwaldschule direkt zu Missbrauch führt und ihn damit zum Mittäter und Mitschuldigen zu erklären, wie es vielfach geschehen ist.
Wir gehen hier nicht auf die Einzelheiten dieser Demontage ein. Nicht auf die aus unserer Sicht teilweise absurden Unterstellungen und Verschwörungstheorien, nicht auf die hass- und wutverzerrten persönlichen Angriffe gegen Hentig (Verfolgung auf der Straße, anonymer Unflat, Beschmierung des Treppenhauses). Wir kennen diese Angriffe aus seinen Schilderungen und stehen solchen Ausbrüchen fassungslos gegenüber. Wir wissen nicht, wer die Angreifer sind und woher so viel Hass kommt. Wir würden sie und ihre Motive gern besser verstehen, wenn es denn überhaupt eine Verständigungsbereitschaft gibt. Wir suchen einen Weg, aus dem Schwarz-Weiß-, Gut-Böse- und Freund-Feind-Denken herauszukommen zu einem Diskurs, der auch dem anderen seine eigene Wahrheit zugesteht und die Mühen der Selbstkritik und des Verstehens nicht scheut. Auch wenn die Signale einstweilen nicht in diese Richtung weisen, wollen wir diesen Weg weiter suchen und begrüßen darum die Initiative von Jürgen Zimmer und Lutz van Dijk zu diesem Internet-Forum.
Das Buch, seine Kritiker und wir
Als wir erfuhren, dass Hartmut von Hentig ein Buch über die Ereignisse der Jahre 2010-2015 schreiben wollte, haben wir ihn in diesem Vorhaben bestärkt. Wir haben vorausgesehen, dass das Buch möglicherweise neue Wellen der Empörung und Kritik auslösen würde, und den Autor davor gewarnt. Wir hatten miterlebt, wie alles, was er vorher geäußert hatte, in Frage gestellt, wie ihm nicht geglaubt wurde. Man hat ihm vorgeworfen, er habe nicht früh und entschieden genug zu den Vorgängen in der Odenwaldschule Stellung genommen. Er hat dies bald nachgeholt, in einer Internet-Erklärung (2011) sehr klar gesagt, dass sexueller Missbrauch ein Verbrechen ist, und er hat die Opfer „in Demut“ um Vergebung gebeten. Das hat ihm nicht geholfen. Im Gegenteil, es gab höhnische und abwehrende Reaktionen. Darum fanden und finden wir richtig, dass er seine Sicht der Dinge in seiner Sprache und mit der gebotenen Gründlichkeit dargestellt hat. Das zu tun ist das Grundrecht jedes Menschen in unserer Gesellschaft und ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung. Wir haben nicht für möglich gehalten, dass eben dieses Grundrecht auf Meinungsfreiheit ernsthaft in Frage gestellt werden könnte. Genau das ist aber eingetreten. Das Erscheinen des Buches sollte nach Meinung einiger seiner erbitterten Gegner verhindert werden. Nun, da das nicht gelungen ist, richtet sich der Zorn gegen den kleinen Verlag wamiki, soll dieser durch öffentliche Diffamierung und Versuche der Abwerbung von Kunden „stranguliert“ werden . Verlegerinnen, die den Mut haben, ein schwieriges und vom Mainstream abweichendes Buch herauszubringen, sollen bestraft werden durch die Vernichtung ihres Lebenswerks. Dies erschüttert unseren Glauben an die Grundwerte unserer Gesellschaft. Wir wünschen uns, dass es vielen so geht und dass der Verlag genügend Solidarität und Unterstützung erfährt.
Wir haben Hentigs Buch gründlich gelesen und ihm – zustimmend und kritisch – Feedback gegeben. Wir würdigen die ungeheure Anstrengung, mit der er in einer solchen Lebenssituation einen solchen Berg an Komplexität, so viele kaum zu entwirrende Einzelheiten, Ereignisse, Äußerungen mit dem Mittel rationaler Analyse und Kritik – auch und vor allem Selbstkritik – zu bewältigen versucht. Ebenso und vor allem würdigen wir sein mit strenger Konsequenz durchgehaltenes Bemühen um größtmögliche Genauigkeit und Wahrhaftigkeit. Wer ihn kritisiert, sollte es darin mit ihm aufnehmen. Genau das geschieht aber nicht. Seine – zugegeben sehr differenzierten und darum teilweise mühsam nachzuvollziehenden – Analysen werden nicht zur Kenntnis genommen, sondern mit pauschalen Verurteilungssätzen beantwortet. Wo er minutiös genau recherchiert und argumentiert, wird ihm das als arrogant vorgeworfen, wird ihm pauschal „Verhöhnung der Opfer“ unterstellt. Wir schließen uns dem Urteil von Marianne Horstkemper an: Man muss schon ignorant oder böswillig sein, wenn man ihm dies vorwirft. Wer dem Buch und seinem Autor gegenüber fair sein will, muss das Mindeste tun, was dafür vorausgesetzt wird: selbst lesen, sich selbst ein Urteil bilden.
(Keine) Chance für Verständigung und Versöhnung?
Wir möchten alle, die diesen Beitrag lesen, dazu ermutigen. Wir bitten sie, den Verlag zu unterstützen. Wir fordern alle, die Hentigs Pädagogik kritisieren oder es für angebracht halten, sie – entgegen ihrer früher vielfach bekundeten Zustimmung – jetzt totzuschweigen, dazu auf, ihre Kritik und ihre eigenen Vorstellungen zu präzisieren. Für uns ist eine übergriffige Pädagogik ein Albtraum, der mit allen Mitteln verhindert werden muss. Aber eine beziehungs- und lieblose Pädagogik ist ebenso ein Albtraum. Wir müssen diese schwierige Balance aushalten und zur Sprache bringen.
Einem solchen kritischen Diskurs möchten wir uns stellen – mit allen, die dazu bereit sind, nicht pauschal zu verurteilen, sondern nachdenklich und mit dem Bemühen um Verstehen aufeinander zuzugehen. Wir können das Leid der Opfer nicht rückgängig machen, wohl aber mit ihnen und anderen in die Zukunft denken. Vielleicht ergeben sich daraus Wege zu Verständigung und Versöhnung. Es geht um ein neues, geschärftes Bewusstsein von der gemeinsamen Aufgabe, Kinder und Jugendliche bestmöglich zu schützen und zu unterstützen – besonders diejenigen, die solche Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld nicht oder zu wenig erfahren. An diesem Maßstab wollen wir uns messen lassen.
Den pädagogischen Überzeugungen, die unser (Berufs-)Leben geprägt haben, bleiben wir verpflichtet.
Und: Unser Freund ist unser Freund.