„Eines der vermutlich am häufigsten wiederholten Hentig-Zitate dürfte die programmatische Formulierung sein: Die Menschen stärken, die Sachen klären. Das ist ein unabschließbares Projekt, eine Zielsetzung, die mit sich wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen immer wieder neu konkretisiert werden und der man sich immer wieder neu annähern muss. Kann man ein solches Konzept heute noch zitieren?“, fragt PROF. DR. MARIANNE HORSTKEMPER.
Meinst Du im Ernst, dass man heute noch Hentig zitieren kann?“ wurde ich kürzlich – mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme – gefragt. Meine Rückfrage, was inhaltlich gegen den zitierten Text spreche, wurde weggewischt – wer sich selbst so ins Aus manövriert habe, der habe doch jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit verspielt.
Es war voraussehbar, dass die Veröffentlichung von Hartmut von Hentigs drittem Band seiner autobiografischen Erinnerungen und Kommentare eine neue Welle hitziger Debatten auslösen würde. Nicht voraussehbar war, dass Leserinnen und Leser mit vernichtender Kritik bereits konfrontiert wurden, bevor sie überhaupt die Gelegenheit hatten, sich selbst ein Urteil zu bilden – deutlich vor der Auslieferung des Buches. Und auch die Vehemenz der Empörung derjenigen, die sich so sicher sind, auf der (einzig) „richtigen Seite“ zu stehen, hätte ich mir so nicht träumen lassen – die Beschimpfungen des Verlages, der sich zur Veröffentlichung des Manuskripts bereitfand, das Ausmaß neuerlicher Bedrohungen des Autors, die Verächtlichmachung und denunziatorische Verzerrung von Positionen derjenigen, die in einen öffentlichen Diskurs eintreten.
Gewiss – allein der Umfang von weit über tausend Seiten macht die Frage verständlich, ob und wie genau dieses Buch eigentlich gelesen wurde. Es ist sicherlich leichter, seinen Duktus wahlweise als bildungsbürgerlich-arrogant oder aber selbstgerecht-weinerlich zu etikettieren, als sich der Anstrengung zu stellen, höchst komplexe Argumentationen zu analysieren, akribische Richtigstellungen nachzuvollziehen und sich dabei auf die Möglichkeiten unterschiedlicher Lesarten und Deutungen einzulassen. Eben dies wird einem bei der Lektüre abverlangt und auch ermöglicht. Man muss schon ignorant oder aber böswillig sein, wenn man Hartmut von Hentig eine „Verhöhnung der Opfer“ vorwirft oder mangelnde Distanzierung von Missbrauch und Festhalten an einer „Opfer-Täter-Verschiebung“.
Ich lese den Text eher so wie Hans Brügelmann in seiner hier dokumentierten Stellungnahme: als Ausweis einer intensiven Auseinandersetzung mit widersprüchlichen und schmerzhaften Erfahrungen – einschließlich der Frage des eigenen Anteils an dieser Entwicklung. Michael Fier hat das in seiner ebenfalls hier nachzulesenden Rezension auf die Formel gebracht: „und dann plötzlich steht man dabei und sieht Hentig zu – beim Lernen.“ Ich selbst sehe sein Buch eher als eine Anstiftung zu eigenem Lernen, als Chance zu nachdenklicher Differenzierung und zur Klärung der eigenen Position.
Die eingangs schon angesprochene Frage nach der Glaubwürdigkeit steht in vielen Diskussionen im Vordergrund. Und auch Hartmut von Hentig bezeichnet ihren Verlust als stärkstes Unglück für sich selbst. Bis auf wenige Freunde habe ihm kaum jemand abgenommen, dass er wirklich ahnungslos gewesen sei. Andererseits müsse er sich aber vorhalten, „dass auch ich anderen Menschen – den anklagenden Opfern – die Glaubwürdigkeit verweigert habe“ (S. 966). Er könne seine Zweifel nicht einfach „abwürgen“, aber er lasse sie auch nicht ungeprüft stehen. Nach intensiver Beschäftigung mit Schicksalen von Missbrauchsopfern könne und wolle er keinesfalls leugnen, dass es für Betroffene schwer traumatisierende Situationen gegeben habe.
Dass die Betroffenen selbst und auch diejenigen, die sich als ihre Interessenvertretung sehen, dies eher als weitere Provokation und nicht als Ausdruck von Nachdenklichkeit begreifen, wird in vielen Äußerungen und Aktionen deutlich. Die Fronten scheinen unüberbrückbar. Keine explizite Verurteilung sexueller Gewalt scheint explizit genug zu sein, keine Äußerung zu den Opfern hinreichend empathisch. Verständigung oder gar Versöhnung scheinen ausgeschlossen.
Kann man darauf hoffen, dass – wie hier in verschiedenen Kommentaren immer wieder angesprochen wird – das pädagogische Lebenswerk des Autors und die davon beeinflusste pädagogische Praxis einen solchen Brückenschlag zustande bringen könnte? Ich bin nicht sicher. Aber seit 1980 habe ich in Lehrerbildung und Schulforschung, in der Zusammenarbeit mit reformorientierten Schulen und auch und gerade als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Laborschule Bielefeld erlebt, wie lebendig sich Schulen in der kritischen Auseinandersetzung mit Hentigs Konzepten und Anregungen entwickeln können. Dazu gehört es, dass Lehrkräfte forschend ihr eigenes Handlungsfeld aufklären und reflektierend gestalten, dass aber auch Schülerinnen und Schüler selbstbewusst ihre Lern- und ihre Lebensprobleme in die eigene Hand nehmen. Eines der vermutlich am häufigsten wiederholten Hentig-Zitate dürfte die programmatische Formulierung sein: Die Menschen stärken, die Sachen klären. Das ist ein unabschließbares Projekt, eine Zielsetzung, die mit sich wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen immer wieder neu konkretisiert werden und der man sich immer wieder neu annähern muss.
Kann man ein solches Konzept heute noch zitieren? Man kann und sollte. Vor allem wünsche ich mir, dass es mit langem Atem und gegen viele Widerstände umgesetzt wird – so wie das viele reformbereite Schulen tun. Was dagegen völlig verzichtbar ist: den Inspirator und Anreger zunächst auf einen Sockel zu stellen und später dann mit gleicher Intensität wie der früherer Hosianna-Rufe den Sturz des Denkmals zu fordern. Man muss mit seiner Art der Reflexion nicht in allen Aspekten übereinstimmen – aber Respekt vor einer solchen Intensität der Auseinandersetzung mit einer existentiellen Erschütterung ist wohl das Mindeste, das man erwarten sollte.