MARIE-ELISABETH MÖLLERS lernte von Hartmut von Hentig, die Schulgrenzen zu sprengen, um die Welt einzulassen. Sie hat die 1392 Seiten Manuskriptseiten des dritten Bandes von Hartmut von Hentig gelesen:
„Noch einmal begegnet uns Sein Leben in der Selbstprüfung und in der Auseinandersetzung mit den Realien des Alltags und den Gedanken und Stimmen der geistigen Welt in ihrer großen Vielfalt, dabei bleibt er stets dem Leser zugewandt. Eigenwillig und radikal lässt Hartmut von Hentig sich auf die ihm unausweichlich erscheinenden Fragen des letzten Jahrzehnts ein, gezeichnet von den Folgen der Verfehlungen des Freundes und dem Schicksal der Odenwaldschule.“
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Die 1392 Seiten Manuskriptseiten des dritten Bandes von Hartmut von Hentig sind gelesen.
Noch einmal begegnet uns Sein Leben in der Selbstprüfung und in der Auseinandersetzung mit den Realien des Alltags und den Gedanken und Stimmen der geistigen Welt in ihrer großen Vielfalt, dabei bleibt er stets dem Leser zugewandt. Eigenwillig und radikal lässt Hartmut von Hentig sich auf die ihm unausweichlich erscheinenden Fragen des letzten Jahrzehnts ein, gezeichnet von den Folgen der Verfehlungen des Freundes und dem Schicksal der Odenwaldschule
Hartmut von Hentig haben wir vor 15 Jahren anlässlich eines Schuljubiläums in Coesfeld persönlich kennengelernt. Er war unserer Einladung gefolgt und stellte sich auf dem Podium unseren Fragen. Das war für uns kurz vor der Pensionierung ein Höhepunkt in unserem Lehrerleben. Seither haben wir uns wenigstens einmal im Jahr getroffen. Mehr als 30 Jahre hatten uns die Publikationen dieses Schulreformers begleitet, begeistert, gestärkt und angeregt, um im verordneten 45 Minutentakt des Unterrichtsvormittags nicht unterzugehen. Wahrnehmen, Denken und Handeln war auf den Schüler gerichtet. Wir lernten von ihm, Schulgrenzen zu sprengen, um die Welt einzulassen.
Den Namen Gerold Becker kannten wir aus den Lebenserinnerungen von Hartmut von Hentig. Als wir 2010 seinen Namen im Bericht der FR über den Skandal an der Odenwaldschule lasen, waren wir zunächst erschrocken, für einen Augenblick auch ratlos. Dann aber sehr bald sehr fest im Glauben an Hartmut von Hentigs Integrität. Nach Bekenntnissen mussten wir nicht suchen.
Auch jetzt nicht in seinem dritten Band. Wir lesen wie immer mit Staunen, wie er uns seine Welt erschließt, ordnet und bündelt, sodass wir teilnehmen können. Und die Verfehlungen des Freundes, seine übergroße Schuld, die Hartmut von Hentig klarsieht? Hartmut von Hentig hat sich dem Freund bei der Vertreibung aus dem Paradies der öffentlichen Anerkennung und der öffentlichen Ehrungen angeschlossen, sie auf sich genommen, aber nicht als wehrlose Annahme des Schicksals.
Haben wir das zu beurteilen? Lässt sich seine durch Reflexion und im Tun erworbene Haltung vielleicht als ein kühnes Zeichen der Menschlichkeit verstehen, die mit dem Freund verbrachte Lebenszeit nicht zu schmälern, den Freund über den Tod hinaus auch in dem gelten zu lassen, in dem er nicht schuldig wurde? Ihn weiterhin Freund zu nennen trotz des menschlichen Makels?
Wir finden in den mehr als 1000 Seiten die Weichen gestellt für eine humane Lebenshaltung.
Wir haben darüber hinaus keine bohrenden Fragen. Hartmut von Hentig bezeugt sein in vielen Prozessen des Lebens geschärftes und gereiftes Gewissen. Wir vertrauen ihm, dass er weiß, wofür er Verantwortung zu übernehmen hat – als fehlbarer Mensch und Lehrer, der den anderen in seiner Fehlbarkeit sieht und annimmt. Die seinem Lebenswerk innewohnende Kraft hat in der Vergangenheit Schule und Bildungsreinrichtungen belebt und verändert. Sie wird stärker sein als der zurzeit über sie verhängte Bann und die Häme der Feinde, gestern und heute.
Marie-Elisabeth Möllers, Heek