„Hartmut von Hentig habe ich meine schönsten Schuljahre an der Laborschule zu verdanken, 5.-10. Klasse (1974-1980). Jetzt bin ich selbst Lehrerin an einer Gesamtschule in Herford und zehre sehr von diesen Erfahrungen und der Erinnerung an ein Schulsystem ohne Strafe mit viel Erfahrungslernen und von der Erinnerung an die Geduld und Empathie dieses Mannes. Wenn dann dieser Mensch, der mir sehr viel bedeutet, öffentlich attackiert wird, dann ist das schwer aushaltbar. Es ist ungerecht!“, schreibt Ira Heistermann.
Inzwischen habe ich alle bis jetzt verfassten Kommentare dieses Forums gelesen, chronologisch vom Anfang bis hierher. Sehr interessant, dass es schon Kommentare zur Hentig-Biographie gab, bevor der Verlag das Buch in den Vertrieb gegeben hatte.
Innen-und und Außensichten
Ich habe vor vielen Jahren die Odenwaldschule einmal selbst als Besucherin und Lehramtskandidatin erlebt. Anfang der 1990er Jahre war ich drei Tage beim Familienoberhaupt Siegfried Helmer untergekommen, um zu einer Uni-Seminararbeit dort vor Ort zu recherchieren. Vermittelt hatte meinen Besuch eine Professorin aus Bielefeld. Ich habe damals in einem kleinen Zimmer einer Abiturientin im Schweitzer-Haus geschlafen, ausgestattet mit gemütlichem Alkoven-Bett. Beim Blick aus dem Fenster erstreckten sich weitläufig grüne Wiesen in Blüte, und ich schaute auf idyllisch gelegene Jugendstilgebäude. Das war er also, der „Zauberberg“ vom Geheeb. Die Schülerin, in deren Zimmer ich wohnen durfte, war bei ihren Eltern und bereitete sich dort auf die mündliche Abiturprüfung vor. Ich habe an der OSO in den drei Tagen viel Bereicherndes und Interessantes gesehen, habe in der Bibliothek des Goethe-Hauses gesessen und über Paul Geheeb recherchiert, Gespräche mit Schülern geführt, den Philosophie-Unterricht angeschaut, an einer Konferenz unter Leitung von Wolfgang Harder teilgenommen. Auf der befasste man sich u.a. damit, einen Schüler zu bestrafen, der mit seinem Auto offenbar mehrfach andere Schüler nach Heppenheim gefahren hatte, um dort einzukaufen, was ihm nicht gestattet war.
Mein Besuch an der Odenwaldschule hinterließ bei mir einen für mich aus heutiger Sicht wichtigen Eindruck. Die Bewohner dieser Schule, Lehrer wie Schüler, wirkten auf mich gastfreundlich, entspannt, sehr selbstbewusst, sehr unkompliziert, sehr höflich, unaufdringlich und ziemlich gelassen in den Umgangsformen. Ich war fast überall auf dem Schulgelände auch mit dem Fotoapparat unterwegs. Niemanden hat das gestört, niemand hat meine Neugierde gestoppt.
Inwieweit man als außenstehende Besucherin wirklich Einsichten in das „Schulinnere“ einer OSO- Familie gewinnen konnte, kann ich nur für mich beurteilen, weil ich in einer Schüler-Familie untergebracht war. Wie man in einer Darstellung einer Betroffenen später lesen konnte, war es offenbar auch in der Schüler-Lehrer-Familie im Schweitzer-Haus zu Übergriffen auf ein Mädchen gekommen. Ich habe selbst drei Tage in diesem Haus als Gast gewohnt. Menschen liefen ein und aus, Mädchen wie Jungen. Alle Türen waren offen.
Ich glaube auch nicht, dass man solche, wie hier im Raum stehende Vorstöße dieser Art überhaupt als Besucherin hätte beobachten können, nicht einmal dann, wenn man dort überall in alle Zimmer hineingeschaut hätte. Das tut ja niemand, das verbietet der Anstand:
Es besteht ein Unterschied zwischen den „Innensichten“ der Bewohner von Schüler-Familien und den Einblicken in diese Familien, die man Besuchern gewährt.
In diesem Forum befassen sich Menschen u.a. damit, ob Hartmut von Hentig diese Innensicht als Besucher hätte haben können. Dieser Vorwurf wurde formuliert, und darüber gemutmaßt, ob er glaubwürdig sei in seiner Versicherung: „Ich habe davon nichts gewusst!“.
Wenn der „innere Kreis“ einer Schülerfamilie die Sicht von außen (durch den Besucher) nicht zulässt, dann wird dieser Besucher auch ganz sicher NICHTS zu sehen bekommen, was ihn irritieren könnte, das ist schon allein deshalb so, weil der „Innenkreis“ das nicht will.
Übergriffige Menschen, Täter, wer auch immer zu diesem Kreis gehört haben mag, waren sicher nicht daran interessiert, ihr Handeln insoweit zu veröffentlichen, dass ihnen wohlmöglich anschließend Konsequenzen gedroht hätten. Es wird hierbei eher um Verdunkelung, Verschleierung, Vertuschung und den Rückzug ins Private gegangen sein und sicher nicht um Aufklärung gegenüber Besuchern. Weshalb sollten also Besucher hineingezogen werden? Weil alle Türen offen standen?
Hartmut von Hentig geht in seinem Buch auf seine etwa einmal jährlich stattfindenden Besuche an der Odenwaldschule während der Jahre 1969 bis 1985 ein. In diesen siebzehn Jahren war Gerold Becker dort zunächst Lehrer und später Schulleiter.
Seine Besuche seien jeweils recht kurz gewesen, selten hätten sie länger als einen Tag gedauert. Er habe im offiziellen Gästezimmer der Schule im Herder-Haus übernachtet. Gerold Becker sei immer sehr beschäftigt gewesen, ihn hätte er zusammen mit Schülern nur im Speisesaal erlebt oder beim Überqueren des Schulgeländes. Sein Gastgeber habe erst abends für ihn Zeit gehabt. Seine OSO-Besuche seien meistens verbunden gewesen mit einer Tagung, einem Jubiläum, einer Theateraufführung etc. (vgl. S.702).
Sechs Wochen Lesezeit
Wenn Kommentatoren in diesem Forum Hartmut von Hentigs Buch gar nicht oder nur bruchstückhaft gelesen haben, aber trotzdem darüber schreiben, zeigt mir das, dass es vielen Schreibern gar nicht um Aufklärung in der Sache, sondern eher um das Festhalten am auserkorenen Sündenbock Hartmut von Hentig geht.
Jürgen Zimmer schreibt, er habe vierzehn Tage beim ersten Lesen des Buches gebraucht. Ich bin da langsamer, bei mir waren es sechs Wochen Lesezeit. Ich habe mir Zeit gelassen und Reflexion betrieben, auch Abgleich meiner Erfahrung mit Hartmut von Hentig als Kind und Erwachsene.
Das Buch glich einem Krimi; mir war bis dahin nur der Schlagabtausch in der Presse bekannt und das Auflauern einiger Menschen vor seiner Haustür, nebst ausgeschütteter Farbeimer vor dieser. Das Echo in den Medien glich einer „Treibjagd“.
Menschen, denen an Aufklärung gelegen ist, prüfen zunächst genau, bevor sie ihre Meinung in die Welt hinaus schreiben. Sie wissen, dass einmal Geschriebenes nicht mehr rückholbar ist und welche Konsequenzen es nach sich zieht.
Ich selbst brauche keine Beweise, um zu glauben, dass Hartmut von Hentig nichts von den Geschehnissen an der Odenwaldschule gewusst hat. Ich habe diesen Mann als Kind lange erlebt, ihn schon dadurch „geprüft“ und erfahren, wie er denkt. Durch seine erlebte Empathie bin ich daher überzeugt, dies beurteilen zu können. Ich weiß, dass er Kinder immer beschützt und unterstützt hat. Wer das nicht erfahren hat, der braucht vielleicht Beweise. Menschen, die Beweise brauchen, sollten dieses Buch lesen. Wer ihn angefeindet hat, könnte sich bei ihm entschuldigen.
Es hätte mich vermutlich erschreckt, wenn Hartmut von Hentig sich gegenüber Gerold Becker öffentlich anders verhalten hätte, als er es getan hat.
Nachdem der OSO- Skandal in der Presse veröffentlicht worden war, hat er Gerold Becker dazu befragt und keine Antwort oder nur abwiegelnde Antworten bekommen.
Nachdem Gerold Becker gestorben war, hat Hartmut dessen Nachlass einschließlich aller Briefe gelesen und dann dieses Buch geschrieben. So hat er auch selbst Antworten darauf erhalten, wie die ambivalenten Beziehungen an der Odenwaldschule ausgesehen haben könnten.
Hartmut von Hentig und die Anderen
Ich kann in diesem Forum den Lesern nicht Hartmut von Hentig erklären. Jeder kann selbst nachlesen, wie er denkt. Ungeübten Lesern empfehle ich: „Pfaff der Kater oder wenn wir lieben“(Hanser), die anderen können es ja mit seinen drei Biographie-Bänden versuchen und mit dem Buch: “Aufgeräumte Erfahrungen“ (1983), ebenfalls bei Hanser erschienen. Wie überhaupt viele Bücher von Hartmut von Hentig in diesem Verlag veröffentlicht wurden. Eben dieser Verlag hat ihm seit der OSO- Affäre die Veröffentlichung verweigert.
Was andere ihm in den Mund gelegt haben, angefangen von der „Süddeutschen Zeitung“, bis hin zur „Frankfurter Rundschau“ etc., ist Rufmord. Was wieder andere von ihm erwartet haben, ist in hohem Maße unverständlich. Zu überflüssigen Stellungnahmen haben ihn sogar ehemalige „Mitstreiter“ genötigt. Er solle sich endlich äußern, alles andere schade ihm doch (siehe auch S. 1035), er sei der Öffentlichkeit etwas schuldig geblieben.
Wer ihn als Kind erlebt hat, der braucht solche Erklärungen weiß Gott nicht, der hatte schon in seiner Schulzeit den „Zipfel der besseren Welt“ gesehen und erlebt. Der, der uns Kinder immer beschützt hat, der muss das nicht öffentlich verkünden.
Als ich las, dass manche Menschen, die Hartmut von Hentig in einer Geburtstagslaudatio zum 90. Geburtstag gratulieren ließen, nicht namentlich genannt werden wollten, da wurde mir leicht übel. Diese Feiglinge schwammen zwar vor der OSO- Affäre gerne auf seiner „Reformpädagogik-Welle“ mit, aber jetzt haben sie nicht die Courage, ihn zu verteidigen – Opportunismus nenne ich das.
Viele seiner Mitstreiter von damals ziehen verschämt den Kopf ein und hoffen, dass bloß niemand sie in dieser Angelegenheit fragt.
Im Rahmen des 90. Geburtstags von Hartmut von Hentig gab es ein Telefongespräch zwischen mir und einer Kollegin. Ich hatte gefragt, ob es keine Feier zu Hartmuts Geburtstag in der Laborschule gebe. Die Antwort war: Nein, es gebe keine Feier in der Schule, man werde die Feier lieber privat halten. Man wolle ihn keiner möglichen Gefahr aussetzen.
Als ich ein halbes Jahr später den neuen Leiter der Laborschule kennenlernte, erzählte dieser mir, dass er Hartmut von Hentig im Mai 2016 in die Laborschule einladen würde, um ihn kennen zu lernen. Man hatte also seitens der ehemaligen „Mitstreiter“ in der Laborschule beim neuen Leiter bezüglich einer Feier im September 2015 offenbar nicht einmal nachgefragt. Für mich war das nicht so sehr: „Hartmut vor Schaden bewahren“, sondern es wurde erschreckende „Ängstlichkeit“ verbreitet. Hätte jemand auf solch einer Feier zum 90. Geburtstag in der Laborschule öffentlich auch nur versucht, abfällige Worte fallen zu lassen, dann hätten seine ehemaligen Schüler diese Person ganz sicher vor die Tür gesetzt, mehr wäre nicht passiert.
Ist es wirklich so?
„Solange du glücklich bist, wirst du viele Freunde haben. Wenn die Zeiten trübe werden, stehst du allein.“
(Donec eris sospes, multos numerabis amicos. Tempora si fuerint nubila, solus eris) (Ovid, Tristia I, 9, 5-6)
Dies hat mir Hartmut 1978 in mein rotes Poesiealbum geschrieben und mir gewünscht, dass dies auf mich nicht zutreffen möge, so wie es das auch grammatisch nicht tue. (solus – sola)
Nein, man steht sicher nicht allein, aber die, die doch eigentlich hinter einem stehen, sind manchmal zu kleinmütig, sich öffentlich zu bekennen.
Kunst des Verstehens
In seinem Biographie-Band zitiert Hartmut aus Briefen von Andreas Huckele, die aus England an Gerold Becker geschrieben wurden (S. 829ff). Man liest dort (zitiert aus dessen Englandbriefen), dass Andreas Huckele allmählich von England die „Schnauze voll habe“, dass er „lieber zu Hause“ wäre (also an der OSO) und sich dann aber damit begnügt habe, die „Kissen voll zu heulen“. Dabei sollte die Englandreise doch die Befreiung von Gerold Becker gewesen sein.
Schon darüber habe ich drei Tage gegrübelt und das Buch zur Seite gelegt, und mich darüber gefreut, dass ich selbst keine Schüler habe, die sich irgendwann von mir befreien müssten.
Es gibt im Buch ein Kapitel, das Gerold Becker darstellt, wie Hartmut von Hentig ihn vor den Eröffnungen in der „Frankfurter Rundschau“ – also vor den Missbrauchsvorwürfen – erlebt hat, u.a. als äußerst großzügig. Seine „Gefälligkeiten“ habe man ihm später als Beschwichtigungs- oder Bestechungsstrategie ausgelegt“, schreibt Hartmut in seinem Buch (vgl. S. 468).
Bestechungsversuche und Abhängigkeiten verlieren ihre Macht, wenn Schüler-Lehrer-Beziehungen rein örtlich nicht mehr bestehen. Andreas Huckele hatte bereits Abitur gemacht und Gerold Becker 1985 die OSO verlassen, als er von Gerold Becker noch drei Jahre später wissen wollte, wo dieser sich in seinen Winterferien 1988 aufhalte. Er wolle ihn gar besuchen und vielleicht etwas länger bleiben, da er die „Tür-und-Angel-Gespräche“ an der OSO ätzend finde? (vgl. S.830). Er bedankt sich 1987 für die Vermittlung einer Praktikumsstelle beim „Süddeutschen Rundfunk“, und bedauert, dass Gerold Becker sich an der OSO nicht mehr blicken lasse (1988), S. 830. Er erwähnt in einem Brief von 1988 den „kleinen Prinzen“, den Gerold Becker ihm vor vier Jahren geschenkt hätte. Nun habe er das Buch nach wiederholtem Lesen auch verstanden. Er schildert, was er seit dem Abitur alles gemacht habe, und er würde sich freuen, bald etwas von ihm zu hören (S.831).
Dies alles klingt nicht nach einer sonderlich hasserfüllten oder gar belasteten Beziehung, eher nach freundschaftlichen Umgangsformen. Ambivalente Beziehungen sollten nicht von mir als außenstehender Leserin beurteilt werden, das steht mir nicht zu. Diese Gedanken hatte ich auch beim Lesen dieses Textabschnittes. Ich fragte mich aber, wo gab es denn hier noch „Abhängigkeit“ zwischen Schüler und Lehrer? Formal war diese doch mit Ende der Arbeitszeit Gerold Beckers an der Odenwaldschule 1985 beendet. Andreas Huckele machte 1988 an der OSO sein Abitur. Dennoch gab es darüber hinaus Treffen zwischen beiden. Die letzte Begegnung zwischen Andreas Huckele und Gerold Becker fand nach Hartmut von Hentig 1990 im Frankfurter Palmgarten statt. Immerhin hatte Gerold Becker die Odenwaldschule fünf Jahre zuvor verlassen (vgl. S.831).
Ich selbst habe Becker vor vielen Jahren auf einer Landerziehungsheimtagung in Würzburg Anfang der 90er Jahre einmal erlebt. Fast zwei Jahrzehnte später las ich dann in der Presse von Missbrauchsvorwürfen gegen Gerold Becker. Das war selbst für mich, die ich ihn doch nicht wirklich kennengelernt hatte, schwer vorstellbar. Selbst solche Tagungen hinterlassen kleine Eindrücke und man macht sich ein Bild von einem Menschen. Ich erinnere mich: Geglaubt habe ich an die Missbrauchsvorwürfe damals nicht.
Nach dem Lesen von Hartmut von Hentigs Biographie sah meine Beschäftigung mit dem Thema etwas anders aus, sie war kritischer, nicht mehr unbefangen-in jeder Richtung. Dennoch und wohl wegen der genauen Beschreibung in Hartmut von Hentigs Buch konnte ich Gerold Becker immer noch nicht als die Person sehen, als die Andreas Huckele ihn beschrieben hat, die man ab jetzt verachten müsse. Für einige seiner Schüler wurde er wohl irgendwann genau dazu, ob schon zu OSO- Zeiten oder irgendwann später kann ich nicht beurteilen. Gerold Becker selbst hatte in einem Brief an Andreas Huckele 1997 darum gebeten, (so liest man es in Hartmut von Hentigs Buch auf S.834), dass er ihn nicht verachten solle. Nach dem Lesen dieser Zeilen sah ich ihn eher als Gefangenen in einer Art Doppelleben, dass für ihn nicht transparent zu machen möglich war, schon gar nicht gegenüber Hartmut von Hentig.
Zeiten ändern sich, Empfindungen auch
Wann Andreas Huckeles Verachtung in Hass umschlug, weiß man nicht genau, es wird nach 1990 gewesen sein. Gründe hierfür wird nur er wissen, andere können darüber nur Mutmaßungen anstellen, was sie nicht sollten, sie waren ja nicht dabei. In seinem Buch: Wie laut soll ich denn noch schreien? (2011) spricht er vom Wendepunkt im Juni 1992: „Point of no Return“, als er sich in eine psychosomatische Klinik einweisen ließ (vgl. S. 106). Hier schreibt er: „Aber ich konnte nicht sagen, was passiert war, ich konnte es einfach nicht. Ich hatte auch kein Gefühl dazu.“ (S. 106). Er ging zu einer Therapeutin zur Nachsorge (vgl. S.106). Andreas Huckele hatte laut eigenen Angaben mit der Odenwaldschule nichts mehr zu tun und beschäftigte sich auch nicht mit ihr (vgl. S.110). Erst zu einem Altschülertreffen im Oktober 1997 fuhr er wieder nach Oberhambach. Er sei dort seit 1988 nicht gewesen, und es habe ihn im Speisesaal der Odenwaldschule wie ein Blitz durchfahren: „Becker kam durch die Eingangstür des Speisesaales.“ (S.113). Kurz darauf schrieb er einen Brief an Gerold Becker. Er nennt es in seinem Buch eine „Beziehungsklärung“ (S.118). „Meine Briefe waren eine Konfrontation, aber sie waren auch der Versuch einer Beziehungsklärung“. Becker „war für mich (eine) Vaterfigur.“ „In meinen Briefen an ihn machte ich das, was Kinder gegenüber ihren Eltern gewöhnlich machten. Ich schonte ihn.“(S.118).
Einstellungen zu Einschätzungen von Menschen verändern sich und das ist nicht nur im Fall von Andreas Huckele so. Ich habe das bei mir selbst auch schon erlebt. Dabei geht es nicht um Gerechtigkeit oder Wahrhaftigkeit, es geht um persönliche Bewertung. Es geht um Eifersucht und Gefühle von Zurückweisung oder darum, sich angenommen zu fühlen, es geht vor allem auch darum, ob die Beziehung kontinuierlich weiter geführt wird und wie das geschieht. Dass sich Erinnerungen verändern, nicht nur die Wertungen über sie, das las ich auch kürzlich bei Julia Shaw (2016, Hanser Verlag). Sie verändern sich über die Jahre und werden nicht selten manchmal völlig uminterpretiert. Diese neuere Erkenntnis der psychologischen Forschung sollte ebenfalls Berücksichtigung finden, bevor man behauptet: Wandel habe es da nicht gegeben, es sei reine Gewalt ausgeübt worden. In einem Brief an Gerold Becker vom 10.1.1998 schreibt Andreas Huckele: „Meine Auszüge aus der Vergangenheit werden dein Gedächtnis ausreichend aktivieren. All das ist nicht in Ordnung, entbehrt jeder allgemeinen und pädagogischen Moral und wird strafrechtlich verfolgt.“ (S.117)
Wer nicht versteht, dass ein offener Blick persönlich involvierten Menschen immer schwer fällt, der hat vielleicht nie geliebt, war nie eifersüchtig oder gar enttäuscht; empathisches Verhalten zeigt solch ein „Nicht-verstehen-wollen“ aber gewiss nicht. Auch Schüler deuten zuweilen die Erinnerung ihrer Schulzeit um, manchmal auch, ohne sich dessen bewusst zu sein, eindrucksvoll zu lesen in: Das trügerische Gedächtnis (J. Shaw). Warum dies geschieht, hat unterschiedliche Gründe.
Hartmut von Hentig hat damals die dunklen Seiten von Gerold Becker nicht gesehen und er konnte sie auch nicht sehen. Viele Menschen unterstellen Hartmut von Hentig müsse doch bei einer so engen Freundschaft alles mitbekommen haben, was an der OSO passierte. Wie sollte er?
Lernen an der Laborschule
Hentig war damals in den 1970er und 1980er Jahren damit beschäftigt, zusammen mit Kollegen, die Laborschule und das Oberstufenkolleg zu gründen (1969-1974) und anschließend, nach dem 9.9.1974 vor Anfeindungen gegen einige Bielefelder Lokalpolitiker und andere Widersacher zu schützen. Hartmut von Hentig war 1976 mit dem internen „Buchkonflikt“ an der Laborschule beschäftigt und hatte damit sicherlich genug zu tun, seine Schulprojekte zu befrieden und aufrecht zu erhalten. Er ist wegen uns Schülerinnen und Schülern an der Schule geblieben. Er wollte uns Kinder nicht im Stich lassen. Er hat eben nicht, wie die Presse damals mutmaßte: „Das Handtuch geworfen“, sondern er hat den Streit im Kollegium ausgehalten und verhandelt. Das hat er sich zugemutet, trotz des eher egoistischen Verhaltens einiger Kollegen. Das Kultusministerium hätte damals – wäre er gegangen – unsere schöne Schule geschlossen. Das habe ich nie vergessen.
Weshalb unterstellt man ihm Mitwisserschaft? Ich kann das nicht verstehen. Was wirft man diesem Mann eigentlich vor? Dass er fernsichtig aus Bielefeld keinen genaueren Blick auf die Becker-Familie in der OSO geworfen hat?
Das lag sicher daran, dass er einfach mit uns Kindern, seinen Kollegen und unserer Schule und dem differenzierten Blick auf seine Schülerinnen und Schüler so viel zu tun hatte, dass das auch rein zeitlich gar nicht möglich gewesen wäre.
Hartmut von Hentig habe ich meine schönsten Schuljahre zu verdanken, 5.-10. Klasse (1974-1980). Jetzt bin ich selbst Lehrerin an einer Gesamtschule in Herford und zehre sehr von diesen Erfahrungen und der Erinnerung an ein Schulsystem ohne Strafe mit viel Erfahrungslernen und von der Erinnerung an die Geduld und Empathie dieses Mannes. Wenn dann dieser Mensch, der mir sehr viel bedeutet, öffentlich attackiert wird, dann ist das schwer aushaltbar. Es ist ungerecht.
Herr Salman Ansari, der selbst Jahrzehnte lang in unmittelbarer Nachbarschaft der OSO gelebt hat und dort als Chemielehrer tätig war, greift Hartmut öffentlich in diesem Forum an, statt sich zu fragen: Was habe ich damals vor vielen Jahren selbst alles nicht an unserer OSO bemerkt? Wer wollte mir etwas sagen und wem habe ich nicht zugehört? Das wären die sinnvollen Fragen, die man sich stellen sollte als Ex- OSO- Lehrer.
Stattdessen diffamiert dieser Mann so ganz nebenbei die Laborschule, die er vermutlich nicht einmal selbst besucht hat, sonst würde er anders über sie sprechen.
Ich erinnere mich, dass das Lernen an unserer Laborschule in Bielefeld ohne Strafen und Sanktionen, ohne Noten und mit vielen Begründungen und Erklärungen, mit viel Erfahrungslernen und ohne Klassenräume im offenen Großraum dazu diente, dass Kinder nicht unter der Willkür von Erwachsenen aufwachsen mussten.
Herr Ansari sollte dies zur Kenntnis nehmen, wenn er über meine Laborschule schreibt. Man hatte es so organisiert, damit etwas wie das dritte Reich nicht noch einmal geschehen solle, damit niemand mehr unter Sippenhaft und unter Hexenjagd leiden müsse.
Wir sollten lernen, „Nein“ zu sagen zu allem, was Unrecht ist. Wir sollten lernen, zu begründen, was wir tun. Wir brauchten nicht zu lügen, denn es gab keine Strafen; wir brauchten niemanden zu beschämen, da wir nicht beschämt wurden. An unserer Schule ging es um Verständigung, Verständnis und Verstehen, dazu braucht man Zeit zur Reflexion. Es ging nicht um Rechthaberei, es ging nicht um Macht, schon gar nicht um Machtmissbrauch.
Auf dem Zauberberg
Wie war das auf dem Zauberberg? Ich denke an meine dortigen Erlebnisse und meine: Just ebenso! Die Missbrauchsfälle waren ein GAU für die Schule. Nach diesem musste gründlich aufgeräumt werden und das Konzept „Freiheit und Ordnung, Offenheit und Geborgenheit“ wieder glaubwürdig gemacht werden. Adrian Koerfer hat diesem Urkonzept der Odenwaldschule auch nach den Eröffnungen über Becker, Held, Kahle und anderen so fest vertraut, dass er seine Tochter an die OSO geschickt hat.
Diese Schule hatte aber durch das Verhalten einiger Ex-OSO-Schüler nicht einmal die Chance, sich zu erneuern, das war ja auch gar nicht das Ziel. Man wollte im Juni 1998 „dem Spuk ein Ende machen“( vgl. Andreas Huckele, alias J.D. S. 119).
Es ging manchen von ihnen, vermute ich, nicht so sehr um die Opfer und wie ihnen geholfen werden könnte, sondern eher um blinde Zerstörungswut eines „Systems“, in dem es offenbar die handelnden Menschen verpasst hatten, ihnen zur richtigen Zeit zuzuhören. Die Verständigung und das Verstehen zu lernen beginnt mit dem Zuhören von Erwachsenen gegenüber Kindern. Hätten sie (die Ankläger) als Kinder den Besucher Hartmut von Hentig in ihr Drama eingeweiht, ich bin sicher, er hätte ihnen so geholfen, wie er uns Kindern in der Laborschule immer zugehört und geholfen hat.
Als ich die OSO Anfang der 1990 er Jahre besucht habe, war da eine gewisse Diskurs-Kultur unter den Oberstufenschülern sichtbar. Wo ist die geblieben? Die „Glasbrechen- Fraktion“ hat diese Fertigkeit zur sinnvollen konstruktiven Auseinandersetzung nicht weiter für sich entwickelt.
Herr Brügelmann hat sich wenigstens die Zeit der Reflexion genommen und Hartmut von Hentig viele Leserinnen und Leser gewünscht. Das möchte die Adrian-Koerfer-Fraktion („Frostschutz“) und der Verein „Glasbrechen“ mit Macht verhindern.
Ungerecht ist solch ein Verhalten schon. Es geht um eine differenzierte Betrachtung der Beziehungen, das ist ein Ziel des Buches. Es möchte Hartmut von Hentigs Sicht erklären und es wäre fair, dieses zuzugestehen und sich nicht weiterer Erkenntnisse / Erklärungen zu verschließen. Meiner Interpretation nach geht es hier bisher, in der OSO- Debatte, um das Festhalten an einem Sündenbock- Stellvertreter und den will man nicht rehabilitieren, man will auch hartnäckig verhindern, dass er das selbst tut.
Wenn dieser das dann in Form einer Selbstverteidigung über 1392 Seiten versucht, dann muss das die Gegenseite unbedingt torpedieren. Die dahinter stehende Logik ist dabei mehr als offensichtlich.
Hartmut von Hentig ist zwar der mit Abstand geduldigste Lehrer, den ich als Kind jemals hatte, in Jürgen Zimmers Beitrag wird er sogar als unverwundbar beschrieben, aber das ist er sicher nicht. Er kämpft einfach immer weiter, schon deshalb, weil er Ungerechtigkeit nicht erträgt und niemand sonst seine Verteidigung übernimmt, außer vielleicht Jürgen Zimmer, indem er ein Forum zur Diskussion über das Buch eröffnete.
Was überzeugt?
Ich war naiv und dachte bisher, dass die „Jagdzeit“ auf sogenannte „sekundär involvierte Personen“ (Sippenhaft) mit Ende des dritten Reichs als beendet anzusehen sei. Der OSO- Konflikt lehrt mich etwas anderes.
Ist das die Art der Auseinandersetzung, die man an der OSO gelehrt hat?
Farbeimer vor Hartmut von Hentigs Wohnung ausleeren?
Briefsendungen zur Diffamierung, versehen mit dem Bundesadler, an die Nachbarschaft verschicken? Anonyme Anrufe in der Nacht beim auserwählten Sündenbock-Stellvertreter Hartmut von Hentig tätigen?
Wirkung zeigt doch nur das, was auch überzeugend ist. Überzeugen kann man aber nur mit Argumenten. Dafür muss man allerdings zunächst lesen, worum es geht, und das am besten, bevor man Kommentare schreibt und wüste Beschimpfungen im Netz hinterlässt. Vor vielen Jahren hat Hartmut von Hentig im Libelle Verlag ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: Brauchen wir Leser wirklich? Ja, wir brauchen sie, und wir brauchen Menschen, die das Gelesene auch im Rahmen ihrer Vernunft verarbeiten können und die mit Hilfe von Argumenten Menschen überzeugen wollen und das auch können. Hätten sie gelesen, wüssten sie, dass Gerold Becker seine Not dem Freund nicht offenbart hat, warum er das nicht getan hat, dass Becker der Scham fähig war, dass Pädophilie für den Pädophilen die Hölle sein kann (Kapitel 18). Sie haben keine Ahnung davon, wie Hartmut von Hentig denkt. Sie kennen ihn gar nicht. Sie wollen ihn auch gar nicht kennenlernen und sich auf seine Argumente einlassen, denn das würde ihrem persönlichen Vorurteil ihm gegenüber die heiße Luft entziehen. Welches Glas wollen sie noch zertrümmern, wenn hinter der Glasscheibe doch niemand mehr steht?
Ira Heistermann, „rote“ Stammgruppe in der Laborschule in den Jahren 1974 bis 1980