Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft hat im März 2017 beschlossen, Hartmut von Hentig den Trapp-Preis, den dieser 1998 erhalten hatte, abzuerkennen. Bei der Tagung der DGfE in Essen (März 2018) gab es dazu eine Podiums-Diskussion. Der Beschluss wurde nicht geändert. Daraufhin sind zahlreiche Mitglieder ausgetreten, darunter Annemarie von der Groeben und Susanne Thurn. Der Vorstandsvorsitzende Prof. Hans-Christoph Koller, hat ihre Austritts-Mitteilung wie folgt beantwortet:…
dass Sie wegen der Aberkennung des Trapp-Preises aus der DGfE austreten wollen, nehme ich mit Bedauern zur Kenntnis. Ich kann dazu nur wiederholen, was ich auf dem DGfE-Kongress und in der Mitgliederversammlung in Essen geäußert habe – nämlich die Bitte, zu bedenken, ob eine solche Konsequenz wirklich zwingend ist oder ob es nicht auch denkbar wäre, sich an der im Vorstand unterlegenen Minderheit zu orientieren, die sich dazu durchgerungen hat, den Beschluss, gegen den sie war, mitzutragen, weil es eine sehr schwierige Entscheidung war und auch die andere Seite gute Argumente geltend gemacht hatte. Dazu kommt, dass es zwischen den Gegnern und Befürwortern des Aberkennungsbeschlusses, die sich auf dem Kongress geäußert haben, auch viele Gemeinsamkeiten gibt – nicht zuletzt die Überzeugung, dass die Erziehungswissenschaft und die DGfE sich den Fragen sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten stellen muss, sowohl was die notwendige selbstkritische Forschung als auch was die Konsequenzen für die Ausbildung von Lehrkräften und außerschulischen Pädagog*innen angeht.
Mit dem nachstehenden Brief begründen die beiden Pädagoginnen ihre Entscheidung:
Sehr geehrter Herr Koller, sehr geehrte Damen und Herren vom Vorstand der DGfE,
vielen Dank für Ihr freundliches Schreiben, Herr Koller. Sie bitten uns darin zu bedenken, „ob es nicht auch denkbar wäre, sich an der im Vorstand unterlegenen Minderheit zu orientieren, die sich dazu durchgerungen hat, den Beschluss, gegen den sie war, mitzutragen“. Wir haben häufig die Situation erlebt, Entscheidungen mittragen zu müssen, gegen die wir waren. In solchen Fällen ist die demokratische Gemeinschaft höher zu werten als die eigene Meinung; sich als schlechte Verlierer zu präsentieren, nützt den Unterlegenen nicht und schadet der Gemeinschaft.
Wir nehmen darum Ihren Einwand sehr ernst. Dass wir trotzdem bei unserer Entscheidung bleiben, bedarf der Begründung.
Wir kennen die von Hentig gegründete Laborschule aus über 30-jähriger Praxis, haben in seinen letzten Berufsjahren mit ihm zusammengearbeitet und erlebt, wie er sich täglich für die Schule und die ihr anvertrauten Kinder eingesetzt hat. Persönliche Loyalität ist jedoch nicht das ausschlaggebende Motiv für unsere Entscheidung. Es geht vielmehr um Haltungs- und Grundsatzfragen. Wir tragen nicht mit, dass der Beschluss des Vorstands über die Aberkennung des Trapp-Preises Grundsätze und Verfahren außer Kraft setzt, die wir bisher als essentiell für die DGfE angesehen haben.
Der Vorstand hat seine Entscheidung damit begründet, „dass die Unterstützung der Opfer (bezogen auf die Opfer sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule) im Zweifelsfall höher zu gewichten ist als die Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen.“
Es geht aber in diesem Fall nicht nur und nicht primär um wissenschaftliche Leistungen. Es geht um das gesamte Lebenswerk eines Pädagogen, der wie kein anderer dafür eingetreten ist, Erkennen und Handeln miteinander zu verknüpfen, die bessere Einsicht immer wieder gegen die widerständige Realität zu verteidigen. Darum wurden die Bielefelder Schulprojekte als lernende, sich verändernde Schulen gedacht und sind heute anders als zur Zeit ihrer Gründung. Darum wurden sie als sich selbst regulierende Diskursgemeinschaften konzipiert. Dies verlangt das unablässige und unabschließbare Bemühen um die bessere Einsicht. Niemand ist im Besitz der Wahrheit, hat sie „gepachtet“ oder kann sie mit Machtmitteln gegen andere durchsetzen, es sei denn durch Argumente im kritischen Diskurs.
Das Buch „Noch immer mein Leben“ haben wir als einen solchen Diskurs gelesen. Wir haben dem Autor – zustimmend und kritisch – Feedback gegeben. Wir würdigen sein mit strenger Konsequenz durchgehaltenes Bemühen um größtmögliche Genauigkeit und Wahrhaftigkeit. Er hat eine Fülle von Fakten, Belegen, Argumenten angeführt, um seine Position zu verdeutlichen. Er hat in dem Bemühen um Glaubwürdigkeit vor allem sich selbst und seine Position in diesem Prozess der Wahrheitsarbeit verändert. Wer ihm vorwirft, er habe das Leid der Opfer nicht gesehen, hat das Buch nicht zu Ende gelesen oder dessen Inhalt bewusst vereinfacht und verfälscht.
Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft hat sich auf einen kritischen Diskurs mit ihrem Preisträger nicht eingelassen, sondern ihn stattdessen pauschal moralisch verurteilt. Eine sorgfältige Prüfung der in dem Buch genannten Fakten, Belege und Argumente hat nicht stattgefunden, eine Aufarbeitung des äußerst komplexen Sachverhalts steht aus. Hartmut von Hentig hatte keine Gelegenheit, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern. Der Vorstand ist der Empfehlung seines Ethikrats nicht gefolgt, aus nicht genannten Gründen. Die Verfahren, die zur Entscheidung des Vorstands geführt haben, wurden nicht offengelegt. Mit unserer Vorstellung von Fairness gegenüber allen Beteiligten, von gründlicher Aufarbeitung und sorgfältiger Prüfung sowie von Transparenz der Verfahren können wir dieses Vorgehen nicht in Einklang bringen. Darum sind wir ausgetreten.
Der Vorstand hat in seinem Aberkennungsschreiben an Hartmut von Hentig geschrieben, dessen wissenschaftliche Leistungen und persönliches Engagement für die Erziehungswissenschaft hätten weiterhin Bestand. Die Fakten sprechen eine andere Sprache. In einem medialen Skandalisierungsprozess mit den bekannten Stufen Auswahl und Montage von Zitaten – Vereinfachung – Zuspitzung – Verurteilung – Diffamierung wurde das Lebenswerk Hentigs generell in Frage gestellt und angegriffen, was dem Vorstand bei seiner Entscheidung bekannt war. In diesen Skandalisierungsprozess sind inzwischen auch namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, langjährige Mitglieder der DGfE, einbezogen, die die Vorstandsentscheidung kritisiert hatten. Ihre Gegner können sich nun auf die Dignität der Wissenschaft berufen, wenn sie ihre Kritik zu einer Art Gesinnungs-Diktat zuspitzen: Wer für die Opfer ist, muss gegen Hentig sein; umgekehrt: wer Hentig verteidigt, schützt die Täter und verhöhnt die Opfer.
Wir verweigern uns mit aller Entschiedenheit einer so unsachgemäßen, persönlich diffamierenden und auch das Ansehen der DGfE beschädigenden Alternative. Den damaligen und heutigen Opfern sexuellen Missbrauchs ist schwerster Schaden zugefügt worden. Aufklärung, Prävention und verstärkter Schutz sind dringende Aufgaben. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die DGfE sich, wie Sie schreiben, den Fragen sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten stellen muss. Wir setzen uns, ebenso wie die genannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten für die heute Heranwachsenden ein: für mehr Bildungsgerechtigkeit und für den Schutz von Kindern vor zunehmender Gewalt in allen ihren schrecklichen Formen. Wir bedauern, dies künftig außerhalb der DGfE tun zu müssen.
Hartmut von Hentig hat die Laborschule gegründet unter dem Motto „Nie wieder ein zweites 1933“. Sein Buch „Die Schule neu denken“ war eine Antwort auf die ersten Gewalt-Exzesse gegen Ausländer und Asylsuchende. Inzwischen sind solche Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und Minderheiten zur traurigen Alltagsrealität geworden. Allen Schulen ist aufgegeben, die Heranwachsenden stark zu machen gegen Fremdenhass und radikale Simpel-Botschaften, sie „vorzubereiten auf die Welt, wie sie ist, ohne sie der Welt zu unterwerfen, wie sie ist“. Wir kennen kein überzeugenderes Konzept für diese Aufgabe als das „Aufwachsen in Vernunft“, in einer embryonic society, das Hentig entwickelt und vorgelebt hat. Wenn diesem Konzept durch das Fehlverhalten von Pädagogen zuwider gehandelt wird, so wird es dadurch ebenso wenig falsch wie die Grundwerte unserer Gesellschaft durch täglich zu beklagende Verstöße gegen sie.
Hentig hat beispielhaft gezeigt, wie neue Herausforderungen zum Anlass pädagogischer Erneuerung werden können. Ihm verdanken die Schulen und die Erziehungswissenschaft prägende Impulse zu innovativen Entwicklungen, Anregungen und konkrete Beispiele, wie diese auch gegen widrige Umstände durchgesetzt werden können. Dass die DGfE dies sieht und würdigt, ist mit dem Satz, sein Engagement habe „weiterhin Bestand“ (s.o.) in keiner Weise gegeben; im Zusammenhang mit dem Aberkennungsbeschluss wirkt der Satz vielmehr wie eine zusätzliche Demütigung. Wir erwarten, dass die DGfE diesen Eindruck korrigiert, dem Diffamierungsprozess entgegenwirkt, unsachliche Anschuldigungen und Polemik zurückweist und Hentigs Lebenswerk in angemessener Weise würdigt.
Wir leiten dieses Schreiben dem alten und neuen Vorstand der DGfE weiter und stellen es dem Internet-Forum des wamiki-Verlags zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Annemarie von der Groeben, Susanne Thurn