# Pädophilie und Pädagogik

JÜRGEN ZIMMER über

– Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung
– Scham und Schweigen
– Präventive Strukturen
– Sorgfaltspflicht, falsche Zuschreibungen und das McCarthy-Syndrom
– Die Gunst des Milieus
– Gerold Becker …

Dieses Dossier schrieb JÜRGEN ZIMMER, Prof. em. Dr., zur Vorbereitung eines Colloquiums der Internationalen Akademie Berlin (INA), das am 25. September 2010 stattfand. 

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Prof. em. Dr. Jürgen Zimmer / Chiang Mai/Thailand, 17. März 2010

 

Pädophilie und Pädagogik

– Dossier zur Vorbereitung eines Colloquiums der Internationalen Akademie Berlin (INA), das am 25.September 2010 stattfand –

Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung

Ich werde zunächst längere Passagen aus einem erkenntnisreichen Beitrag von Sophinette Becker zitieren, die als Sexualwissenschaftlerin die sexualmedizinische Ambulanz an der Universitätsklinik Frankfurt leitet. Der Beitrag ist 1997 im „Werkblatt“ – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik (Nr. 38,1) erschienen und beruht auf einem Vortrag, den die Autorin 1997 auf einer Fachtagung in Berlin gehalten hat.

„Wenn fünf Sexualwissenschaftler privat zusammensitzen, und einer schneidet das Thema Pädophilie an, bricht innerhalb kurzer Zeit heftiger Streit aus. Werfen die einen den anderen Feigheit, Konformismus, biedere Moralisierung, Ausgrenzung von Minderheiten vor, schlagen die anderen mit dem Vorwurf der Verharmlosung, Verleugnung, Pseudo-Fortschrittlichkeit zurück. Ein heterosexueller Sexualwissenschaftler wirft einem homosexuellen Kollegen vor, die Homosexuellen hätten sich auf Kosten der Pädophilen emanzipiert, und erhält zur Antwort, er solle sich doch bitte selber emanzipieren, statt seine Emanzipationswünsche an andere zu delegieren. Die einen beharren darauf, dass es auch pädophile Beziehungen zu Kindern gebe, die so fürsorglich seien, dass das sozial und emotional deprivierte Kind überwiegend von dieser Beziehung profitiere, auch wenn es vor allem Zuneigung und weniger Sexualität wolle. Die anderen halten dagegen, dass man diese Position besonders gut vertreten kann, wenn man seine eigenen Kinder aufgrund guter sozialer Bedingungen für immun gegenüber Pädophilen hält, und dass es eher angebracht wäre, darüber nachzudenken, wie man die soziale und emotionale Lage von Kindern verbessern kann. Die einen halten Pädophilie für eine erotisch-sexuelle Präferenz, die anderen für eine Fixierung etc. Natürlich findet die Auseinandersetzung nur inoffiziell auf diesem emotionalisierten Niveau statt. Aber das Thema ”Pädophilie”/”Pädosexualität” setzt offensichtlich bei allen Menschen heftige Affekte frei. Auch bei den Verfassern des Einladungstextes von heute und auch bei den Sexualwissenschaftlern, die sich um einen rationalen Zugang bemühen. Die Debatte über Pädophilie in der Sexualwissenschaft ist immer auch geprägt von dem jeweiligen gesellschaftlichen Diskussionsstand, der Reaktion auf ihn und der Reflexion über ihn. Ich will das im folgenden ein bisschen nachzeichnen.
Ende der 60er-Jahre brachte der damalige Justizminister Heinemann die überfällige Reform des Sexualstrafrechts in Gang. (Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an diesen grässlichen Kuppelei-Paragraphen, an die Diskriminierung der Homosexuellen, an das Verbot von Literatur wegen ”Obszönität” usw.) In den repressiven 50er-Jahren schützte der ständig beschworene ”Schutz der Minderjährigen” diese nicht vor Erwachsenen, sondern im Wesentlichen die Jugendlichen vor ihren eigenen Bedürfnissen. Das gesellschaftliche Klima war damals geprägt von der verleugneten Aggressivität und Destruktivität – insbesondere der des nur kurz zurückliegenden Nationalsozialismus – und von tabuisierter, unterdrückter Sexualität. Gleichzeitig wurde immer und überall etwas sexuell Verbotenes gewittert, es wurde häufig vor dem ”bösen fremden Onkel” gewarnt, und gleichzeitig wurde der Inzest in den Familien übersehen.
Der Sonderausschuss zur Reform des Sexualstrafrechts (1970), der zu allen Fragen viele Sachverständige einlud, bemühte sich um einen nicht von Affekten geleiteten Umgang – auch mit dem Thema Sexualität mit Kindern – und bat die Experten deshalb, sich nicht nach allgemeiner Anschauung sondern empirisch begründet unter anderem zu folgenden Fragen zu äußern:
Welche Wirkungen sind bei einem Kind bis zu 14 Jahren von sexuellen Handlungen eines anderen an dem Kind oder vor dem Kind zu erwarten, und welche Wirkungen sind bei einem Kind von dem Strafverfahren wegen eines solchen Vorganges zu erwarten?
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Schadens?
Die Mehrheit der befragten Experten (Sexualwissenschaftler, Psychiater, Kinderpsychiater, Psychoanalytiker u.a.) verneinte (soweit empirisch feststellbar) psychische Dauerschäden als isolierte, linear-kausale Folge nicht gewaltsamer sexueller Handlungen. (Das mag Sie heute wundern.) Sie betonten den Kontext, das Beziehungsgefüge, in dem solche Handlungen geschehen, und die Reaktion der Umgebung, was für viele der damals angezeigten Fälle auch wichtig war. Auch heute, obwohl wir manches anders bewerten, ist es immer gefährlich, wenn man die sexuelle Handlung oder den sexuellen Akt loslöst von dem Beziehungsgeschehen und dem sozialen Kontext. Offensichtlich äußerten sich die damals befragten Experten nicht zu längeren Beziehungen. Es ging also weder um chronischen, langen inzestuösen Missbrauch in der Familie noch um längere pädophile Beziehungen.
In dieser Anhörung äußerte der Sexualwissenschaftler und Forensiker Eberhard Schorsch u.a. folgenden Satz: ”Ein gesundes Kind in einer gesunden Umgebung verarbeitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne negative Dauerfolgen.” Diese Aussage wurde später gerne von pädophilen Ideologen zitiert. (Ich unterscheide zwischen Pädophilen und pädophilen Ideologen; zu den Ideologen zähle ich diejenigen, die ihr subjektives Interesse an Kindern als progressiv im Sinne der kindlichen Sexualität ideologisieren.) Schorsch selbst hat sich 1989 deutlich von seiner Aussage distanziert und hat auch reflektiert, dass er u.a. von der 1970 bestimmenden Utopie der sexuellen Liberalisierung geprägt war.
Der bekannte Topos der Diskussion dieser Zeit war, dass die Unterdrückung der Sexualität zu psychischen Störungen und damit zu einer unfreien Gesellschaft führt. Wir wissen heute, dass dies nur zum Teil richtig war; natürlich empfinden wir es als einen Segen, dass heute nicht mehr viele Jungen unter schwersten Schuldgefühlen bei der Onanie leiden. Dass bestimmte Tabus geringer geworden sind und dass sie früher schädlich waren, ist unbestritten, aber das war eben nur die eine Seite der Medaille, so dass man sagen kann, die sexuelle Befreiung war berechtigt, aber sie hatte auch Grenzen. Die Berechtigung und das gleichzeitige Scheitern der Utopie der sexuellen Befreiung ist ein Beispiel für die Dialektik der Aufklärung.
Etwa seit Mitte der 70er-Jahre (in Holland schon früher) organisierten sich Pädophile in der Bundesrepublik als Subkultur bzw. als Emanzipationsbewegung. Mehrheitlich waren diese organisierten Pädophilen ”Jungen-Pädophile”. Diese Gruppen formulierten und artikulierten – zum Teil auch laut – die pädophile Ideologie, die in etwa besagt: ”Wer gegen pädosexuelle Kontakte ist, unterdrückt die Sexualität des Kindes”. Diese Ideologie fand (vor der Missbrauchsdebatte, die die letzten Jahre bestimmt hat), zum Teil Anklang in fortschrittlichen Kreisen (nicht nur in der ”Indianerkommune” in Nürnberg, sondern bis hin zu Grünen Landesverbänden).
Die Sexualwissenschaftler setzten sich mit der pädophilen Ideologie auseinander und versuchten, ihre Widersprüchlichkeit freizulegen. Günter Amendt, Verfasser des berühmten Werkes ”Das Sexbuch” und vehementer Kämpfer für eine von Tabus und Schutzalterbestimmungen befreite Sexualität von Jugendlichen, wendet sich 1984 dezidiert gegen sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und vorpubertären Kindern und weist der pädophilen Ideologie Sozialdarwinismus (Recht des Stärkeren) und vor allem die rationalisierende Verleugnung der Sexualität in pädophilen Beziehungen nach. Amendt denunziert jedoch nicht die Pädophilen selbst, deren Tragik er erkennt, sondern nur die pädophile Ideologie.
Martin Dannecker setzt sich 1987 mit der von der pädophilen Ideologie behaupteten sexuellen Gleichberechtigung (Gegenseitigkeit zwischen Erwachsenen und Kind) auseinander und arbeitet die prinzipielle Ungleichzeitigkeit heraus, die sich allein daraus ergibt, dass der eine Partner sich jenseits und der andere sich diesseits der Pubertät befindet: ”In der Pubertät kommt es bekanntlich zu einer Reihe von charakteristischen Umgestaltungen in der sexuellen Organisation, von denen die Objektfindung für unseren Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist. Mit Objektfindung ist die erst nach der Pubertät erreichbare Konturierung des sexuellen Objekts gemeint. Zwar werden die entscheidenden Weichen für die spätere Sexualorganisation schon in der frühen Kindheit gestellt. Aber erst nach der Pubertät erwirbt ein Individuum ein Bewusstsein über seine in der Kindheit präformierte Sexualorganisation. Nicht anders verhält es sich mit der Objektgewinnung in der Pubertät, die, genauer gesagt, eine Objektaneignung ist. In der Pubertät wird das präformierte Sexualobjekt sowohl bewusst als auch endgültig zentriert. Mit dieser bewussten Aneignung des sexuellen Objektes wird auch ein wesentliches Stück der sexuellen Identität angeeignet. Das Individuum beginnt sich, entlang seines Sexualobjektes als heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder pädosexuell etc. wahrzunehmen. Für das Sexualleben ist die bewusste Aneignung eines sexuellen Objektes insofern von Bedeutung, als schon aus den Reizen, die vom Objekt ausgehen, und durch die auf das Objekt zielenden Interessen sexuelle Lust gewonnen werden kann. Voraussetzung für diese Objektlust ist demnach die Aneignung des sexuellen Objektes und dessen Integration ins Bewusstsein.
In der pädosexuellen Beziehung aber gibt es nur einen Partner mit solchen Voraussetzungen. In ihr fehlt eine Reziprozität der Objekte, weshalb es auch widersinnig ist, die kindliche Sexualität unter dem Blickwinkel der Pädosexualität zu betrachten. Pädosexuell kann nur der Erwachsene sein. Die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem, die im Blick auf die Konturierung und Strukturierung des sexuellen Objektes herrscht, bringt es notwendig mit sich, dass dem Kind bei einem sexuellen Kontakt das Sexualobjekt sozusagen aufgedrängt wird. Das wird besonders am Anfang einer pädosexuellen Begegnung deutlich. Während das Interesse des Pädophilen am Kind von Beginn an auch sexueller Natur ist, kann das beim Kind nicht unterstellt werden.
Nicht das Kind, sondern ausschließlich der Erwachsene verspürt einen sexuellen Reiz. Nehmen wir einmal an, der auf diese Weise gereizte Erwachsene gibt seinen Phantasien nach und ruft das Kind zu sich. Nehmen wir ferner an, das Kind folgt dem Ruf des Erwachsenen. Während der letztere bereits sexuelle Lust verspürt und sexuell erregt auf das Eintreffen des Kindes wartet, macht sich das Kind auf den Weg, ohne eine sexuelle Begegnung zu antizipieren. Zwischen dem Erwachsenen und dem Kind herrscht eine Disparität der Wünsche, die nur schwer zu überbrücken ist. Diese Disparität führt dazu, dass der Erwachsene nach dem Eintreffen des Kindes seine sexuellen Wünsche zunächst einmal erst wieder zurücknehmen muss. Mit großer Anstrengung wird er versuchen, eine Situation herzustellen, die es ihm ermöglicht zu glauben, die Wünsche des Kindes seien mit seinen eigenen kongruent.”
Das ist das unausweichliche Dilemma der Pädophilen, an dem sie immer wieder scheitern, um das letztlich auch viele wissen und es durch Selbstkontrolle zu mindern versuchen, indem sie den nicht-sexuellen Kontakt sehr ausbauen. Und dieses Dilemma ist es auch, das die pädophile Ideologie zu verschleiern versucht.
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In den letzten Jahren dominiert gesellschaftlich nicht mehr der Topos von der sexuellen Befreiung. Die pädophile Ideologie existiert noch, aber sie ist gesellschaftlich eher schwach und wird kaum von jemandem unterstützt. Dass dies so ist, hat nicht nur mit der enttäuschten Utopie der sexuellen Liberalisierung und der allgemeinen gesellschaftlichen Enttäuschung gegenüber Utopien überhaupt zu tun, sondern auch mit der seit Jahren geführten Debatte über den sexuellen Missbrauch. Es war und ist nicht leicht, in dieser Debatte einen kühlen Kopf zu behalten. Die Parteilichkeit für die Opfer (ich behandle solche) heißt für mich auch, zu widersprechen, wenn alles und jedes (z.B. jedes erotische Signal eines Erwachsenen) zu sexuellem Missbrauch erklärt wird weil dadurch letztlich die Traumata der wirklich Betroffenen nicht ernst genommen werden. Es heißt für mich auch zu widersprechen, wenn jede psychische/psychosomatische Störung (z.B. Essstörungen, die sehr verschiedene Ursachen haben können) generell mit sexuellem Missbrauch erklärt wird. Es bedeutet auch, Patienten aufzufangen, die verstört zu mir kommen, weil ihre Therapeuten versucht haben, sie dazu zu zwingen, sich an einem vermeintlichen sexuellen Missbrauch zu erinnern – und gleichzeitig sich für die Anerkennung der Realität des sexuellen Missbrauchs einzusetzen, der nach wie vor verleugnet bzw. verharmlost wird.
Auch bei der Pädophilie ist eine Position jenseits von Dämonisierung und jenseits von Verharmlosung schwierig. Mein Referat heute ist kein Beitrag zur ”Täter-Erkennung”, kein psychologischer Steckbrief des ”pädophilen Täters” – den es so einheitlich gar nicht gibt. Ich werde vielmehr im Folgenden versuchen, das Phänomen, die Erscheinungsform der Pädophile/Pädosexualität zu differenzieren.
Der Begriff der Pädophilie stammt von Krafft-Ebbing, einem der Begründer der modernen zunächst sehr stark an der Psychiatrie orientierten, d.h. phänomenologisch-beschreibenden, ordnend-klassifizierenden Sexualwissenschaft. Krafft-Ebbing und dessen Hauptwerk ”Psychopathia Sexualis” (1896) stehen für den Übergang vom kriminalisierenden zum medizinalisierenden, psychopathologisierenden Blick auf abweichende Sexualität. Seine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sexuellen Verhaltens und Erlebens sind noch heute aufschlussreich, insbesondere darüber, was zeitbedingt war und was gleichgeblieben ist im sexuellen Verhalten und im Blick darauf.
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Die ”Paedophilia erotica”, im Sinne einer sexuellen Perversion beschreibt Krafft-Ebbing vorwiegend bei Männern, aber auch bei Frauen, auf Kinder des eigenen oder des anderen Geschlechts gerichtet. Gemeinsame Charakteristiken sind nach Krafft-Ebbing:
1. Die Neigung zu unreifen Personen ist primär.
2. Die Betroffenen sind potent. (Abgrenzung von ”Pseudo-Pädophilie” bei Impotenz.)
3. Die sexuellen Handlungen gegenüber den Kindern bestehen ”in bloßer unzüchtiger Betastung und Onanisierung der Opfer. Gleichwohl führen sie zur Befriedigung des Betreffenden, selbst wenn er dabei nicht zur Ejaculation gelangt.”
4. ”Die Paedophilen sind unerregbar durch sexuale Reize des erwachsenen Individuums, an welchen der coitus nur faute de mieux und ohne seelische Befriedigung vollzogen wird.”

Wenn ich Krafft-Ebbings Beobachtungen und Interpretationen mit meinen eigenen bzw. mit dem, was wir heute über Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern wissen, kontrastiere, fallen mir Parallelen und Unterschiede auf. Interessant finde ich zunächst, dass er überhaupt nicht jeden sexuellen Missbrauch von Kindern für psychopathologisch begründet hält, sondern im Gegenteil nur bei einer sehr kleinen Gruppe eine wirkliche psychosexuelle Fixierung auf Kinder konstatiert und nur diese pädophil nennt; ich teile diese Auffassung.

Nachdem sicherlich inzwischen deutlich ist, dass nicht jede pädophile/pädosexuelle Handlung auf Pädophilie/Pädosexualität schließen lässt, möchte ich noch einmal zur wirklichen, echten Pädophilie kommen, also zu jener Gruppe von Menschen, die Martin Dannecker die ”strukturierten Pädophilen” nennt und für deren Neigung Krafft-Ebbing die Bezeichnung ”Paedophilia erotica” schuf. Ich werde dabei von ”Pädophilen” sprechen, weil es der geläufigste Ausdruck ist. Weniger verschleiernd und spezifischer wäre es, von ”Pädosexualität” zu sprechen, weil das Spezifische – nicht das Ausschließliche – das bewusstseinsfähige sexuelle Interesse an Kindern ist.
Diese Gruppe hielt schon Krafft-Ebbing für klein, d.h. nur ein Bruchteil der ”Unzucht mit Kindern” ausmachend; Rüdiger Lautmann hält 5% der pädosexuell aktiven Männer für pädophil – ausschließlich mit ihnen beschäftigt sich sein Buch.
Im Folgenden möchte ich die mir wesentlich erscheinenden Charakteristika der Pädophilie aufzeigen, wobei deutlich werden wird, dass die zentralen Aussagen Krafft-Ebbings nach wie vor zutreffen.
1. Es besteht eine primäre psychosexuelle Fixierung auf vorpubertäre Mädchen oder Jungen zwischen fünf bis vierzehn Jahren (es gibt zwei Gipfel in der Alterspräferenz: 5-6 Jahre und 11-12 Jahre). Dabei ist nicht das Alter als solches, sondern der jeweilige Entwicklungszustand entscheidend. Primär bedeutet im Sinne der zitierten Äußerungen Danneckers, in der Kindheit angelegt und dann ab der Pubertät bewusst bzw. ”formiert” – sofern die pädosexuellen Wünsche/Phantasien nicht abgewehrt werden. Die ersten pädosexuellen Kontakte finden dann auch meist in der Pubertät statt.
2. Die psychosexuelle Fixierung auf Kinder beinhaltet immer auch sexuelles Interesse an diesen, aber nicht ausschließlich ein sexuelles Interesse, bzw. das Interesse an den Kindern geht darüber hinaus, obwohl die Sexualität nie fehlt. Pädophile haben ein großes Interesse an sozialen Kontakten zu Kindern überhaupt. Pädophile verlieben sich in Kinder, wünschen sich echte reziproke Liebesbeziehungen zu Kindern – und müssen (wie bereits aufgeführt) an diesen Wünschen wegen der Ungleichzeitigkeit immer wieder scheitern.
Die nicht-sexuellen Wünsche der Pädophilen gegenüber Kindern werden oft als geschickte Tarnung/Maskierung ihres ”eigentlich” ausschließlichen sexuellen Interesses verkannt. Diese Unterstellung ist ebenso wahr wie die Aussage, dass alle heterosexuellen Männer von Frauen ”nur das Eine” wollen und alle Liebesgefühle, Zärtlichkeit, Wünsche mit ihnen zusammen zu sein reine Heuchelei seien.
3. Pädophile idealisieren Kinder, vergleichbar der Anfangsidealisierung in einer Liebesbeziehung zwischen Erwachsenen, nur viel grundsätzlicher, tiefer und anhaltender. Pädophile idealisieren auch die Kindheit an sich, allerdings nicht die eigenen, wozu sie auch meist wenig Anlass haben.
4. Viele Pädophile akzeptieren ihre psychosexuelle Fixierung anfangs nicht und versuchen, sie abzuwehren – manche mit ”Erfolg”, der aber fast immer mit neurotischen Symptomen und/oder sexuellen Störungen verbunden ist.
In unserer Sexualmedizinischen Ambulanz habe ich eine Reihe eigentlich pädophiler Männer gesehen, die wegen Potenzproblemen und/oder schweren Depressionen kamen. Sie waren oft verheiratet, hatten sich irgendwann als bisexuell definiert, manchmal auch versucht, homosexuelle Beziehungen einzugehen, in denen sie ebenso impotent wie vorher in heterosexuellen Beziehungen waren. Ihre pädophilen Wünsche hatten nie zu realen Beziehungen mit Kindern geführt, sondern waren vielmehr mit heftigen Schuld- und Schamgefühlen verbunden und nur kurze Zeit bewusstseinsfähig gewesen. Letzteres hatte sich meist in der Pubertät ereignet, dann war eine asexuelle Phase gefolgt, in der sie Beziehungen überhaupt vermieden hatten, dann folgte der Versuch ”normale” sexuelle Beziehungen einzugehen etc.
Eventuell werden manche von Ihnen solche Entwicklungen gut finden, weil diese pädophilen Männer immerhin keinem Kind etwas antun. Vielleicht können Sie aber auch angesichts des Unglücks dieser Patienten mit einer abgewehrten Pädophilie erahnen, welche psychisch stabilisierende, Depressionen verhindernde Funktion die Pädophilie hat. Im wesentlichen geht es dabei (wie bei allen Perversionen) um die Funktion einer ”narzisstischen Plombe” (Morgenthaler) mit Hilfe derer das (insbesondere durch Störung der männlichen Identität mit entsprechenden massiven Vernichtungs- und Kastrationsängsten) bedrohte Ich vor der Desintegration bewahrt wird. Im Unterschied zu den meisten anderen Perversionen ist bei der Pädophile die Möglichkeit der ”szenischen Inszenierung” und der abgemilderten Integration der Perversion nur schwer möglich. Das ist die Tragik, von der Amendt spricht oder anders gesagt: Pädophilie ist die Lösung eines Konflikts, aber diese Lösung ist im Interesse der Kinder nicht akzeptierbar.
5. Allen Pädophilen ist die strafrechtliche Verfolgung, die gesellschaftliche Ächtung und Diskriminierung früh bewusst. Wenn sie ihre Pädophilie nicht abwehren (bzw. nicht abwehren können, da Pädophilie ja bereits eine Abwehr/Konfliktlösung ist), fühlen sie sich zu unrecht von der Gesellschaft/Justiz verfolgt, da sie subjektiv den Kindern nichts Böses wollen, Kinder lieben, von ihnen geliebt werden wollen, sich in Kinder einfühlen, sich ihnen nahe/verwandt fühlen, sich um sie kümmern, sie unterstützen etc. An dieser subjektiven Überzeugung der Pädophilen ist vieles wahr (durch eine narzisstisch-symbiotische Identifizierung fühlen sie sich z.T. tatsächlich sehr gut in Kinder ein). Illusion an dieser Überzeugung ist (wie ausgeführt) das autonome sexuelle Interesse des Kindes an dem Erwachsenen. Die juristische Verfolgung führt Pädophilen zu (sekundären) Strategien, wie sie ihre Neigung leben können ohne aufzufallen. Von sexuellen Missbrauchern fühlen sich strukturierte Pädophile meilenweit entfernt. Die häufige Betonung, dass sie nichts Gewaltsames täten, ist keine Schutzbehauptung, sondern meistens wahr. (Eine Grenzüberschreitung, ein Übergriff bleibt es dennoch.) Sie wünschen sich, dass das Kind – durch sie – glücklich wird. (Die Verleugnung der Bedeutung der Sexualität bei strukturierten Pädophilen ist unter anderem auch eine Folge der juristischen Verfolgung.)
6. Wenn das Kind älter wird, d.h. die präferierte Altersspanne überschreitet, erlischt das sexuelle Interesse des Pädophilen. Bei längeren Beziehungen zu Kindern wird die Beziehung oft als freundschaftliche weitergeführt, d.h. der ”nutritive” fürsorgliche Beziehungsanteil wird fortgeführt. Ich kenne eine Reihe von Jungen-Pädophilen, die ihre Ex-Freunde weiter betreuen, ältere Ratgeber für sie bleiben, sie mit Freundin empfangen etc.
7. Bei den sexuellen Praktiken überwiegen Streicheln und Masturbation. Meist masturbiert dabei der Erwachsene das Kind; er wünscht es sich auch umgekehrt, hat aber (zu Recht) die Befürchtung, dass das Kind das nicht zulässt. Analverkehr und Vaginalverkehr sind eher selten. Insgesamt machen Pädophile mit Kindern sexuell deutlich weniger als das, was Erwachsene miteinander machen.
8. In Bezug auf die Verteilung der pädophilen Fixierung auf Jungen oder Mädchen sind mir keine genauen Zahlen bekannt. In meiner eigenen Erfahrung und in den mir bekannten Untersuchungen überwiegen bei den strukturierten Pädophilen deutlich die Jungen-Pädophilen. Unter den auf Mädchen fixierten strukturierten Pädophilen, die ich gesehen habe, waren nur ganz wenige, die sich dazu bekannten und ihre Neigung nicht als Not-Tat (z.B. Frust gegenüber der Ehefrau) erklärten. Ebenso selten wurden in diesen Fällen real längere Beziehungen zu Mädchen (mit sexuellen Kontakten) berichtet; längere heftige Verliebtheiten in Mädchen (vergleichbar denen von Louis Carroll, dem Verfasser von ”Alice im Wunderland”) jedoch schon.
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass eine Psychotherapie mit strukturierten Pädophilen schwierig ist, freiwillig (d.h. ohne Gerichtsauflage) auch selten zustande kommt, weil sie ihre pädophile Neigung als ichsynton erleben. Eine Psychotherapiemotivation ist meistens nur gegeben, wenn sie unter der Pädophilie leiden, das heißt z.B. unter dem Konflikt zwischen ihrer Neigung einerseits und dem gleichzeitigen Wissen andererseits, dass es dem Kind schadet. Das therapeutische Ziel solcher Patienten ist dann meist die Möglichkeit der Kontrolle ihrer pädophilen Wünsche. Eine Veränderung der sexuellen Präferenz (Fixierung) in Richtung einer homosexuellen Entwicklung im Laufe einer Psychotherapie halte ich für eine illusionäre Erwartung.
Wie Krafft-Ebbing zu seiner Zeit bin ich heute der Auffassung, dass strukturierte (”echte”) Pädophile nur einen sehr kleinen Teil derjenigen Erwachsenen ausmachen, die Kinder sexuell ausbeuten. Eine einseitig gegen die Pädophilen gerichtete Verteufelung und Verfolgung greift deshalb m. E. zu kurz. Sie versperrt auch den Blick auf psychosoziale bzw. gesellschaftliche Entwicklungen, deren Analyse im Interesse des Schutzes der Kinder vor sexueller Ausbeutung dringend erforderlich wäre – ich denke dabei z.B. an das zunehmende Schwinden der Generationsschranke in den Familien.“

Am 7. März schickte mir Gerold Becker unter dem Begriff „Ekelhaftes“ einen kurzen Hinweis auf den FR-Artikel, in dem „mal wieder was über den ‚Missbrauch‘ an der Odenwaldschule“ erschienen sei: „Alles sehr scheußlich!“ Er setzte das Wort Missbrauch in Anführungszeichen. Er muss eine völlig andere Auffassung vom Geschehen haben. Der Beitrag von Sophinette Becker erhellt, warum es diese Auffassungsunterschiede geben kann.

Scham und Schweigen

An einem frühen Sonntagmorgen im Hamburg des Jahres 1959, ich lag noch im Bett, stand unvermittelt der Hausherr vor mir und warf mir ein Kissen an den Kopf. Er war ein Altschüler eines der Internate, die ich besucht hatte; wir hatten uns auf einem Altschülertreffen befreundet. Er begleitete mich väterlich während der verbleibenden Schuljahre und lud mich ein, während meines Studiums bei ihm zu wohnen. Ich kannte ihn als Kantaten- und Oratoriensolist und wusste von seinem Hauptberuf als Angestellter einer bedeutenden Porzellanmanufaktur.

Als mich das Kissen weckte, dachte ich, Kissenschlacht sei angesagt und warf zurück. Es dauerte nur kurze Zeit, da hatte er – zwei oder mehr Gewichtsklassen schwerer – mich im Schwitzkasten, und ich merkte, dass da etwas ganz anderes ablief. Er verfiel in Vulgärausdrücke, die mich vollends irritierten, weil sie so gar nicht dem kultivierten Bild entsprachen, das ich von ihm hatte. Einer Vergewaltigung entkam ich, weil ich mit allen Kräften um mich schlug und keine Zurückhaltung vor Tiefschlägen zeigte. Ich verließ auf der Stelle die Wohnung.

Eine Episode mit glimpflichem Ausgang. Gleichwohl fiel mir mit den Jahren auf, dass ich einen Block hatte, sie anderen zu erzählen, schon gar nicht in Einzelheiten. Ich schämte mich, dass mir als Mann so etwas passieren konnte.

Die Opfer des Missbrauchs tragen ein ungleich schwereres Paket mit sich; es kann deshalb nicht wundern, dass sie viele Jahre brauchen, um darüber zu sprechen. Männer, die als Jugendliche Opfer von Missbrauch wurden, sprechen in der Therapie die Scham an, die sie zum Schweigen brachte.

Während meiner Internatsjahre bin ich nie mit Situationen vergleichbarer Art konfrontiert worden. Wir hatten andere Probleme als Jugendliche, zum Beispiel die drohende Kriminalisierung der ersten Liebe – in meinem Fall durch einen Ex-SS-Arzt und Vater meiner Freundin, der mit dem Staatsanwalt und dem Kuppeleiparagraphen drohte, oder die Angst vor ungewollter Schwangerschaft.

Wenn ich mir heute überlege, wen ich damals im Falle eines traumatischen Erlebnisses hätte ansprechen können, fällt mir aus meiner gesamten Internatslandschaft niemand ein; die Erwachsenen waren von Tabu-Mauern umgeben, und diejenigen Schüler, die sich in flagranti erwischen ließen, sind hochkant rausgeflogen.

Präventive Strukturen schaffen

Die von der Vereinigung deutscher Landerziehungsheime im Januar 2010 zum Problem von sexuellen Übergriffen und Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen herausgegebene Stellungnahme ist bedeutsam, weil sie einerseits an wichtigen reformpädagogischen Kennzeichen – wie dem Familienprinzip – festhält, andererseits aber die damit verbundenen Gefahren in den Blick nimmt:

„Die LEH-Vereinigung ist sich der Gefahren, die in einer Lebensgemeinschaft wie einem Internat herrschen, durchaus bewusst. Dies darf aber nicht dazu führen, dass das hohe Gut einer echten Beziehungskultur, wie sie z.B. durch die in den LEHs vorherrschende „Familienstruktur“ geprägt wird, aufgegeben wird. Erfahrungen zeigen, dass gerade diese, den Kindern und Jugendlichen bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und beim Lernen nutzt und hilft; sie funktioniert auch, wenn Lehrer und Erzieher ethisch handelnde Menschen sind.
Die LEHs beugen möglichen Gefahren vor, indem sie bewusst die Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen von nur einer Person im Internat zu verhindern suchen; Internatsbetreuer und –betreuerinnen arbeiten zwar mit hoher Eigenverantwortung, aber auch als Team, so dass Kinder und Jugendliche immer mehrere Ansprechpartner finden.

Die Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe in einer Lebens- und Lerngemeinschaft wie den LEHs ist eine Herausforderung für jeden Internatslehrer und –pädagogen; sie gelingt aber, wenn Internatsschulen sich dessen bewusst sind, offensiv und professionell damit umgehen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit nicht allein lassen.

Kinder und Jugendliche müssen die Möglichkeit haben, sich bei Problemen vertrauensvoll an Erwachsene wenden zu können. Die Schulleitung und die Schulgemeinschaft garantieren entsprechende Strukturen dafür, z.B. Vertrauensgremien, Sorgentelefon …

Die LEHs gehen präventiv mit den Themen „Sexualität“ und „Sexuelle Gewalt“ sowie den „Chancen und Gefahren der Gratwanderung von Distanz und Nähe“ um und schenken ihnen in den Schulen und in der LEH-Vereinigung immer wieder Aufmerksamkeit, dies in der Hoffnung, dass für das Missbrauchsproblem ein Bewusstsein geschaffen wird, sensibel auf Anzeichen zu achten, Vorwürfe ernst zu nehmen und sich ggf. professionelle Hilfe zu holen.“

Wichtig ist das Vier-Augen-Prinzip. Wichtig ist eine nicht in die Hierarchie oder das Beziehungsnetz eingebundene, unabhängige Person oder Instanz mit leichter Erreichbarkeit und Vertrauensschutz. Wichtig ist, Kinder von früh an mit ihren Rechten vertraut zu machen, und dazu gehört auch das schwierig zu handhabende Recht, bei sexualisierten oder sexuellen Annäherungen nein zu sagen, auch dann, wenn das Gegenüber geliebt und verehrt wird. Aber es ist schwer, Kinder über die Ambivalenz aufzuklären, dass jemand, den sie lieben, diese Liebe zugleich zu erwidern scheint und zerstört. Und besonders schwer ist es, Kinder widerstandsfähig zu machen gegen die Koppelung von Missbrauch und einer Erzwingung des Schweigens durch Liebesentzug oder Bedrohung.

Die Aufklärung des Kindes kann zum folgenlosen Appell werden, wenn nicht zugleich Strukturen geschaffen werden, die den Widerstand des Kindes erkennen und aufgreifen und seine Fähigkeit, sich zu äußern, unterstützen. Es sind Strukturen, die geeignet sind, die Kultur des Schweigens immer wieder zu durchbrechen.

Kultur des Schweigens

Die Kultur des Schweigens ist eine hartnäckige Begleiterin des Missbrauchs. Der Täter ist an führender Stelle, ist beliebt, fachlich anerkannt, charismatisch, gebildet, ein Pädagoge von Rang, der sich in einer täglichen, aufopferungsvollen Praxis bewährt: Allein bei der Vorstellung, dass es bei diesem Menschen eine „dunkle Seite“ gibt (wie es eine Therapeutin genannt hat; aber es ist keine dunkle Seite, sondern er selbst) und es eine ohne hemmende Barrieren des Gewissens fortgesetzte Praxis der Pädophilie geben soll, können und wollen selbst unverdächtige Mitarbeiter in nächster Nähe nicht glauben. Sie müssten antizipatorisch die innere Demontage eines Vorbilds und Ideals einleiten, um sich ernsthaft auf die Spur der Verdachtsaufklärung zu setzen. Sie würden möglicherweise sich selbst einen Vertrauensbruch vorwerfen und in Abwehr dieser Gedanken nach Zeichen der Unschuld suchen, sie hoch bewerten und die Angelegenheit in die Schublade packen.

Ich glaube, dass Muster dieser Art, damals gepaart mit der Angst um den öffentlichen Skandal und die Existenzgefährdung der Schule durch sich abwendende Eltern, um sinkende Schülerzahlen und den Entzug der Schulgenehmigung, gewirkt haben, als Wolfgang Harder die Leitung der Schule übernahm. Diese Kultur des Schweigens hat sich unter Harders Nachfolger, Withney Sterling, fortgesetzt, der, von der Berliner John F. Kennedy Schule kommend, nicht zum Beziehungsgeflecht gehörte, der sich in der Zeit seiner Amtsführung eher als ein nicht akzeptierter Außenseiter vorkam und nach einigen Jahren das Handtuch warf.

Was das externe Umfeld der deutschen Reformpädagogen von Enja Riegel bis zum damals pädagogisch noch nicht konvertierten Bernhard Bueb anbelangt, war es ja mehr eine Kultur der unbeirrbaren Ungläubigkeit mit Auffassungen wie „das passt doch überhaupt nicht zu Gerold Becker“ oder „er kann keiner Fliege, geschweige denn einem Kind, etwas zu leide tun“ bis zum Fazit „er war es nicht“.

Mit dieser Position wurde ich konfrontiert, als wir unter Herausgebern der „Neuen Sammlung“ Ende der neunziger Jahre die für mich ersten Beschuldigungen diskutierten. Ich war sehr irritiert, wurde aber damals wie auch später durch die eindeutige Haltung und Äußerung der beiden Hauptgewährsleute eines Besseren belehrt: von Hartmut von Hentig und Wolfgang Harder. Harder und Hentig, der eine dicht dran am Geschehen, und der andere als Lebensgefährte Gerold Beckers, waren für mich ohne Zweifel glaubwürdig, und so kam ich zu der Auffassung von der Unschuld des Angegriffenen und beschloss, Gerold Becker nicht weiter unter Verdacht zu setzen, ihn nicht mit dem Kainsmail auf der Stirn, sondern wie vorher wahrzunehmen.

Als Jahre später Hartmut von Hentig vorschlug, Gerold Becker wieder mitarbeiten zu lassen, fand sich dafür eine Mehrheit von sieben Herausgebern, während drei dagegen waren und die Redaktion verließen. Es wurde intensiv, ernsthaft und fair diskutiert, und keiner hat sich die Entscheidung leicht gemacht.

Die Erkenntnisse von damals waren nicht die Erkenntnisse von heute. Heute wissen wir es besser.

Sorgfaltspflicht, falsche Zuschreibungen und das McCarthy-Syndrom

In jenen Jahren waren viele skeptisch geworden gegenüber teilweise inflationären Missbrauchs-Verdächtigungen. In einigen Kindergärten reichte es schon, dass ein Kind ein Strichmännchen mit Penis zeichnete, um den Missbrauchsverdacht zu äußern. Eine besonders umstrittene Rolle spielte der Verein Wildwasser, der nicht zimperlich war mit der Beschuldigung Unschuldiger und sie ins Gefängnis oder fast in den Selbstmord trieb. Katharina Rutschky und Reinhart Wolff zogen dagegen zu Felde, und die Wellen schlugen hoch.

Noch als Schüler in Salem hatte ich dem damaligen Anwalt Hellmut Becker bei Recherchen geholfen, in denen es um die Überprüfung von Aussagen einer zwölfjährigen Stieftochter des Salemer Arztes ging, die ihn detailreich des sexuellen Missbrauchs bezichtigte. Der Arzt wanderte sofort ins Konstanzer Gefängnis und war, obgleich er bald wieder herauskam, für den Rest seines Lebens ein gebrochener Mann. Mir war es – im alemannischen Wasserburg am Bodensee aufgewachsen – relativ leicht, bei den Kindern und Jugendlichen des Salemer Nachbardorfes Stephansfeld (dort wohnte die Arztfamilie) genau jene Vielfalt der Begriffe rings um den „Geschlechtsverkehr“ (wir nannten ihn treffender „z’sammbebbn“), die Redereien, Projektionen und Zuschreibungen herauszufinden, die die Phantasie der Stieftochter beflügelt hatten. Die Unschuld des Arztes wurde zweifelsfrei festgestellt.

Sorgfalt bei der Zeugenbefragung walten zu lassen, gehört zu den Grundpflichten von Psychologen und Ermittlungsbeamten. Die Unschuldsvermutung gilt bis zur Bestätigung und Bewertung der Straftat durch ein rechtskräftiges Urteil.

In aufgewühlten Debatten um sexuellen Missbrauch werden Spieße oft in die falsche Richtung gedreht und falsche Zuschreibungen vorgenommen: Diejenigen, die die Sorgfaltspflicht anmahnen, werden der Verharmlosung bezichtigt; oder – weitaus schlimmer – Opfer werden zu Tätern erklärt, zu Nestbeschmutzern und Aufschneidern, die die Existenz einer Einrichtung gefährden.

Opfer brauchen nicht nur die Bestätigung von außen; wir müssen auch verstehen, dass sie beschämt und ambivalent sind. Die Einsicht, missbraucht worden zu sein, ist äußerst schmerzhaft. Wir haben anzuerkennen, dass Opfern dies schwer fällt (deshalb ist die Frage „warum habt ihr euch nicht früher gemeldet?“, unangemessen). Wenn in der Öffentlichkeit dauernd von Opfern geredet wird, kann das von den Opfern selbst möglicherweise nicht als Anerkennung, sondern als neue Beschämung empfunden werden. Deshalb ist Vorsicht angebracht, um die Übergriffigkeit nicht zu wiederholen. Grundsätzlich gilt aber: Das Leid der Opfer darf nicht schöngeredet werden, sie müssen Anerkennung und Schutz erfahren, erst recht, wenn sie nicht ins Klischee passen.
Im empfehle dazu den Bericht von Bodo Kirchhoff (Spiegel Nr. 11, 15.3.2010), mit dem Versuch, in Sprache zu fassen, was er als Schüler in Gaienhofen erlebt hat.

Und noch ein Muster ist zu beobachten: das McCarthy-Syndrom. Es entwickelt sich in der zweiten Phase der medialen Aufbereitung eines aufgedeckten Falles. Nun werden mehr und mehr Menschen des Mitwissens oder der Komplizenschaft verdächtigt, die nur irgendwie in Beziehung gesetzt werden können. Ein Beispiel dafür bietet die Frankfurter Rundschau in einem Online-Artikel vom 14. März 2010: Hartmut von Hentig habe im Jahr 2003 das Buch „Bewährung“ veröffentlicht und als Berater u.a. Ingo Richter genannt. Und nun geht das Strickmuster so weiter: „Professor Ingo Richter war lange Jahre Leiter des Deutschen Jugendinstituts – und er ist der Ehemann von Sabine Richter-Ellermann, die bis heute Vorstandsvorsitzende des Trägervereins der Odenwaldschule ist. Richter gehörte dem Kuratorium der Freudenberg-Stiftung an, die seit Jahren personell eng mit der Odenwaldschule verflochten ist und diese finanziell unterstützt hat. Zu den Beratern der Freudenberg-Stiftung wiederum zählten mindestens bis zum Jahr 2004 der Odenwald-Altschüler Florian Lindemann …“ und so weiter und so weiter.

Da fällt mir wieder mein Heimatdorf ein, in dem – ohne Zutun der Inquisition – die Nachbarn anfingen, sich wechselseitig der Hexerei zu bezichtigen. Gewiss, andere Zeiten und ganz andere Fälle. Aber die Gelegenheit, nun die große Keule zu schwingen, bis dann endlich auch Anja Riegel, die höchst erfolgreiche frühere Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden zum Ziel wird, wird genutzt, um das Thema medial am Kochen zu halten. Am Ende steht dann die gesamte Reformpädagogik der Nachkriegszeit am Pranger, obwohl sie gewiss nichts für die Taten eines Pädophilen kann.

Die Gunst des Milieus

Ein Pädophiler will sich einen risikoarmen Zugang zu Kindern verschaffen, das ist triebdynamisch sein übermächtiges Bestreben, ob er nun reformpädagogisch denkt oder nicht. Er mag sich der Gefahren bewusst sein und der Versuchung widerstehen wollen. Aber das könnte er nur durch Askese und die konsequente Vermeidung von Orten der Gefährdung.

Ich glaube deshalb auch nicht, dass der Katholizismus die Entstehung von Phädophilie begünstigt. Eher schon den „double standard“. Oder anders und am Beispiel von Salem (zur Zeit einer meiner Töchter) gesagt: Je mehr Pädagogen glauben, mit hehren Texten in PR-Broschüren auch die Wirklichkeit zu beschreiben, desto umfänglicher der heimliche Lehrplan, desto pfiffiger die Schüler in der Entfaltung ‚verbotener‘ Jugendkultur.

Als ich zur 75-Jahr-Feier der Odenwaldschule eingeladen war, um eine Plenumsdiskussion zwischen Schülern, Eltern und Lehrern zu moderieren und mit meinem Mikrofon an der langen Leine von einem Redner zum anderen wanderte, beeindruckte mich die hohe Diskussionskultur der Beteiligten und ich dachte, dass die Odenwaldschule große Chancen hätte, den Bruch zwischen offiziellem und heimlichem Lehrplan zu überwinden, so wie es die Hermann Lietz-Schule Spiekeroog versucht. Diese Chance wurde pervertiert durch die Leugnung des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern bei gleichzeitiger Nutzung dieses Machtgefälles durch die Täter.

Die Frage, die sich Psychologen gestellt haben, ob sich Pädophile im Wege des Einstellungsverfahrens entdecken lasse, muss wohl, wenn Taten noch nicht aktenkundig geworden sind, verneint werden. Haben sie erst einmal den Zugang zu einem Internat geschafft, muss das auf sie – folgt man Mitteilungen über Aussagen von Pädophilen in der Therapie – wirken, wie wenn man einen Alkoholiker zum Nachtwächter in einer Weinkellerei ernennt. Deshalb ist die strukturelle Prävention innerhalb der Institution so wichtig und die fortdauernde Stärkung von Kindern und Jugendlichen, nein zu sagen und Schutz einzufordern.

Der Blog

Im Fall der Odenwaldschule gibt es die singuläre Chance, durch die Lektüre des Blog,

http://misalla.wordpress.com/2010/03/05/die-odenwaldschule-kann-ein-skandal-immer-skandaloeser-werden-das-flaggschiff-der-deutschen-landerziehungsheime-zeigt-wies-geht/

eine Diskussion zwischen Altschülern, Schülern und anderen nachzuvollziehen, die sich durch eine Vielfalt des Positiven und Ernsthaftigkeit auszeichnet. Jedem, der sich mit den Vorgängen an der Odenwaldschule jenseits von Zeitungsberichten vertraut machen will, sei diese Lektüre sehr empfohlen.

Eine Aufgabe für die INA?

Marita Keilson, Frau von Hans Keilson, Literaturwissenschaftlerin, die über ein einschlägigesThema promoviert hat, schickte auf Anfragen, wie sie zu dem stünde, was da passiert sei, aus dem niederländischen Bussum eine Karikatur, auf der sich zwei Geistliche, deren Soutane sich an zentraler Stelle leicht vorwölbt, besorgt über ein auf einem Stuhl hockendes Opfer beugen und sagen, es solle bitte doch noch einmal alles genau erzählen.
Marita Keilson würde ich gerne zum INA-Colloqium einladen, denn sie hat einen Punkt getroffen: dass ein Voyeurismus im Gewand moralischer Entrüstung nun wirklich zu keiner Erhellung des Phänomens Missbrauch beiträgt und vor allem nicht zu dessen Verhinderung.

Wenn wir in der INA das Thema Pädophilie und Pädagogik diskutieren: Wo sind die Ansatzpunkte wirksamer Vorbeugung und Verhinderung? Wo stehen die Fallen, in die wir geraten können? In welchen Denkmustern sind wir befangen, die uns möglicherweise den Weg zum tieferen Verstehen und damit auch zu einem auf Kompetenz gründenden Handeln verbauen?

Gerold Becker

Ich lernte Gerold Becker Ende der sechziger Jahre im Berliner Haus von Antoinette und Hellmut Becker (nicht verwandt oder verschwägert mit Gerold Becker) kennen. Ich arbeitete damals am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Im Vorfeld des Evangelischen Kirchentags in Frankfurt 1987 wurden Hartmut von Hentig, Gerold Becker und ich von der Kirchentagsleitung gebeten, die Bergpredigt unter der Fragestellung zu lesen, welche Konsequenzen sie für pädagogisches Handeln hätte. Ich fand: sehr radikale. Wir verfassten nach vielen Gesprächen ein Manifest und sollten es in einer der großen Hallen vor mehreren tausend Besuchern vortragen. Vor uns war eine Politikerrunde dran, deren Platitüden von den Besuchern durch das Singen von Kirchenliedern abgebrochen wurden. Angesichts dieser gereizten Stimmung im Saal trugen wir mit klammem Herzen unser Manifest vor. Es wurde mucksmäuschenstill. Als wir geendet hatten, gab es standing ovations, und die sich daran anschließende Diskussion mit dem Publikum war die intensivste und beeindruckendste meines Lebens. Ich kam später vollkommen nassgeschwitzt in meinem Hotel an.

Zum 80. Geburtstag von Hellmut Becker (1993) gaben Gerold Becker und ich eine Festschrift heraus („Lust und Last der Aufklärung“). Zuletzt besuchte ich Hartmut von Hentig und ihn im Spätherbst 2009 in deren Wohnung; da hatte er schon die ersten panikverursachenden Erstickungsanfälle erlebt.

Am 14. März schrieb ich ihm:

„Lieber Gerold,

Du kannst Dir möglicherweise denken, dass der neue Artikel in der Frankfurter Rundschau, die darin mitgeteilten Aussagen der Schüler, mehr aber noch die inzwischen große Zahl von Zeugenaussagen gegenüber der OSO und auch die Aussagen im Blog, deren erste 300 Eintragungen ich angesichts ihrer Varianz mit Faszination und angesichts ihrer Ernsthaftigkeit mit Respekt gelesen habe, mich nicht daran zweifeln lassen, dass Du Dich – und andere auch – im Sinne der Strafgesetzgebung des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hast. Und dass ich diesmal nicht mehr glaube, was ich nach den Aussagen Wolfgang Harders und Hartmuts und anderer im Kreis der „Neuen Sammlung“ noch Ende der neunziger Jahre geglaubt habe: dass die Vorwürfe ungerechtfertigt seien.

Nun gehöre ich gewiss nicht zu denen, die nach dem ersten Schock den ‚Fall GB‘ zuklappen mit dem Hinweis ‚wieder mal getäuscht‘ oder ‚hat denn keiner was gewusst?‘. Ich habe nur einen großen Nachholbedarf in Sachen Verstehen. Und den haben andere vielleicht auch, vor allem Menschen, die mit Kindern umgehen und eine andere Auffassung von Kinderrechten haben.

Als ich Deine Zeilen vom 7. März las, hast Du den Begriff Missbrauch in Anführungszeichen gesetzt. Da dachte ich, dass Du eine völlig andere Sicht von den Ereignissen haben musst als (fast) alle anderen. Ein bemerkenswerter Beitrag von Sophinette Becker zum Thema (Ende der neunziger Jahre) zeigt auf, warum das so sein kann, und warum das von (fast) allen anderen, insbesondere von Therapeuten der Opfer, gesehene unaufhebbare Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen von Dir möglicherweise als aufhebbar empfunden wurde und wird.

Du hast noch eine kurze Strecke zu leben, und nach meinem Verständnis zwei Möglichkeiten: entweder Dein Schweigen fortzusetzen und Dich auf das Hier und Jetzt und die letzten Dinge zu besinnen oder Dich zu äußern. Du bist der wichtigste Zeuge in eigener Sache. Du könntest zur Aufklärung und zum Verstehen beitragen. Du könntest Dich bei denen, die sich als Opfer erlebt haben und immer noch daran tragen, entschuldigen. Du könntest Deine Sicht des Geschehens mitteilen. Ich meine damit anderes als eine Journalistenschelte oder die Infragestellung von Zeugenaussagen, ich meine, dass niemand außer Dir – im übertragenen Sinne – die Version des Räubers aus Kurosawas „Rashomon“ authentisch mitteilen kann. Der hatte ja auch eine andere Sicht als die der Frau des vornehmen Herrn oder des Herrn selbst.

Wenn Du willst, helfe ich Dir dabei – in welcher Form auch immer. Eine könnte sein, dass wir die Gespräche aufnehmen und sie, von Dir autorisiert, bald oder auch irgendwann später, wenn es Dich auf Erden nicht mehr gibt, öffentlich zugänglich machen. Mir fallen dabei die Gespräche ein, die Terziano Terzani vor seinem Tod mit seinem Sohn geführt hat („Das Ende ist mein Anfang“).

Es ist ein Angebot, keinerlei Aufforderung, nicht einmal ein Wunsch. Aber ich denke, dass, wenn überhaupt, Du nur mit Ausführlichkeit auf das damalige Geschehen an der OSO eingehen kannst, und da finde ich die Form des Dialogs geeigneter als geschriebene Confessiones, zumindestens in Deiner Lage.

Goetz Doyé hat, als er von den Meldungen hörte, geschrieben: „Wenn auch nur ein Teil davon auf Wahrheit beruht, wäre es schon eine schreckliche Sache. Offenbar müssen wir hier wieder einmal die Tiefen menschlicher Verirrungen sehen, auch wenn es mich etwas schwindelt. Als Christ hilft mir dabei zwar die strikte Trennung zwischen Person und Werk, die es mir möglich macht, zwischen dem abscheulichen Werk die Person nicht gleich in den Abgrund zu jagen, aber das Werk bedarf der klaren Abgrenzung und Verurteilung.“ Richtig, aus seiner und meiner Sicht des Neuen Testaments. Aber zum Verstehen trägt das nicht viel bei, weil diese gedankliche Abspaltung zur möglicherweise ichsyntonen Interpretation durch Dich im Widerspruch liegt.

Ich weiß nicht, ob Du zu Gesprächen von Deiner physischen und psychischen Verfassung her noch willens und in der Lage bist, aber falls doch, so bin ich spätestens vom 12.April an wieder in Berlin und bereit dazu.

Und nun schicke ich Dir eine Brise frischer Meeresluft von den Gestaden Thailands und grüße herzlich
Jürgen“

Notiz über einen Besuch bei Gerold Becker und Hartmut von Hentig
am 17. Mai 2010

Gerold Becker

Ich hatte vorher mit seinem Arzt gesprochen, der ihm noch eine Lebenserwartung von wenigen Tagen bis mehreren Monaten gibt: Dies hinge davon ab, ob Gerold Becker weiter die Nahrungsaufnahme reduziere oder verweigere bzw. ob er in seinem geschwächten Zustand eine Infektion bekäme oder nicht. Gerold Becker wollte sich nach Aussagen des Arztes ins Krankenhaus zum Sterben zurückziehen, um Hartmut von Hentig nicht zur Last zur fallen, man habe ihn aber überzeugen können, in einem Krankenbett in der Wohnung zu bleiben und sich dort versorgen zu lassen.

Ich traf Gerold Becker in einem sehr abgemagerten Zustand an (42kg – früher 65). Er bekommt wegen seines Lungenemphysems Sauerstoff. Obwohl er mir zu Beginn des Gesprächs sagte, ihn würden nach einer Viertelstunde die geistigen Kräfte verlassen, von denen er nur noch einen Bruchteil besäße, war er anderthalb Stunden konzentriert bei der Sache.

Wir sprachen über sein Verhältnis zu den Vorgängen an der Odenwaldschule, zu seinen Taten und zu meinem Angebot, ihm bei einer umfassenden Aussage zu assistieren (siehe mein Schreiben vom 14. März an ihn). Erst meinte er, es sei für eine solche Aussage zu spät, gegen Ende des Gesprächs sagte er, er werde es sich überlegen, ob er mündlich bzw. schriftlich aussagen wolle oder nicht.

Ich hatte nicht den Eindruck, hier einen reuigen Sünder vor mir zu haben, vielmehr vertrat GB eine eher offensive Position und verwies auf Prozesse zur Pädophilie, die in der zweiten Instanz – so seine Aussage – mehrheitlich zugunsten der Angeklagten ausgegangen seien. Diese Gesprächspassage war nur kurz. Gerold Becker war nicht bereit, sich bei dieser Gelegenheit zur eigenen Sache zu äußern. Er bat – als ich die Ausnutzung des Gewaltverhältnisses Erwachsene / Kinder durch Pädophilie ansprach – um Zusendung des Beitrages von Sophinette Becker, den ich in meinem Brief erwähnt hatte.

Wir verblieben so, dass er sich im Falle seiner Aussagebereitschaft meldet.

Hartmut von Hentig

Ich sprach mit ihm ohne Gerold Becker. Er sagte, dass er bis in die jüngste Zeit von GBs Taten nichts gewusst habe. Hartmut von Hentig war bei dem Gespräch emotional sehr berührt. Er empfindet das Verhalten der Medien ihm gegenüber als Hexenjagd. Er habe – außer zu wenigen Freunden – alle Kontakte abgebrochen, würde nichts mehr schreiben und keine Veranstaltungen mehr besuchen. Auf meine Frage, was er nach dem Tod von Gerold Becker tun wolle, antwortete er, dass er in der Wohnung bleiben wolle und jemanden habe, der ihn – wenn es soweit sei – pflegen werde.

Er gab mir den Text „Hartmut von Hentig redet“ vom 27.04.2010, den er aus Anlass eines Artikels von Reinhard Kahl in der ZEIT vom 22.04.2010 verfasst hat. Kahl hätte, so Hartmut von Hentig, ihn ursprünglich interviewen wollen; er habe ihm Fragen geschickt, die Hartmut von Hentig als qualitativ unzureichend empfunden habe. Er hätte Kahl daraufhin das Interview verweigert. Kahls Reaktion sei dann der ZEIT-Artikel gewesen.

Hartmut von Hentig sagte, seine Haupterfahrung mit den Medien sei die gewesen, dass man ihm Zitate im Mund umgedreht und ihm nicht geglaubt habe. Er werde jetzt schweigen.

Wir sprachen darüber, möglicherweise in einigen Jahren die gesamten Vorgänge noch einmal unter die Lupe zu nehmen; Hartmut von Hentig sprach von der Möglichkeit eines dritten Bandes seiner Memoiren – „Nicht mein Leben“ –, aber dies sei, meinte er, nur ein vorläufiger Gedanke.

——-

Die Fortsetzung folgt in Kürze.

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