Theodor Schulze kritisierte die Aufmachung der ZEIT: „Mit ihrer Dachzeile: „Reformpädagogik und sexueller Missbrauch“ haben Sie nicht nur ein unzutreffendes, sondern auch ein irreführendes und zu Unrecht diffamierendes Signal an die Leserinnen und Leser gesendet.“ Frau von Münchhausen, Textchefin und verantwortlich für die Leserbriefseiten bei der ZEIT, antwortete. Ein Briefwechsel entstand. Wir veröffentlichen den Brief von Prof. Schulze, Frau von Münchhausen hat einer Veröffentlichung ihrer Briefe an den Leser leider nicht zugestimmt.
Sehr geehrte Frau von Münchhausen,
vielen Dank, dass Sie bereit waren, mir auf meine Nachfrage vom 28. April 2016 zu antworten.
Doch so einfach ist das nicht, wie Sie in Ihrer Antwort behaupten: Da ist meinerseits und von niemandem etwas zu leugnen. Der Zusammenhang, den Sie herstellen, zwischen Reformpädagogik und Missbrauch ist inhaltlich und logisch völlig unbegründet und lediglich einer öffentlichen Meinungsmache geschuldet. Etwas Falsches wird nicht richtig dadurch, dass man es oft genug in der Presse wiederholt.
Wenn sowohl Hartmut von Hentig wie auch Gerold Becker sich dem pädagogischen Ansatz der Reformpädagogik verpflichtet fühlten, so folgt daraus doch keineswegs, dass dieser Ansatz so etwas wie sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen intendiert oder gar gebilligt habe. Weder aus Hartmut von Hentigs Schriften zur Neugestaltung von Schule noch aus anderen Schriften zur Schulreform lässt sich eine solche Intention oder Billigung ablesen.
Sie selber gehen davon aus bzw. „vollziehen nach“, dass ein inhaltlicher Zusammenhang von Reformpädagogik und Missbrauch bei den Vätern der Reformpädagogik nie intendiert wurde. Was für die „Väter“ und Gründer der Reformpädagogik gilt, gilt im Großen und Ganzen genauso für ihre Nachfolger und alle mir bekannten Vertreter der Reformpädagogik bis in die Gegenwart. Wohl gab es unter den „Vätern“ einige wenige, die sich offen hielten und aussprachen für die Möglichkeit sexueller Annäherungen und Bindungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen – ich denke an Hans Blüher und Gustav Wynneken. Aber sie blieben Einzelgänger, waren heftig umstritten und ihre Einstellung wurde von der großen Mehrheit entschieden abgelehnt. Die „dramatische Verirrung“, von der Sie sprechen, ist keine Verirrung der Reformpädagogik, sondern eine Verirrung einzelner Personen, begründet in ihren Anlagen und Neigungen, in ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebensgeschichte, nicht aber in ihrem reformpädagogischen Konzept. Auch in der Besprechung des Hentig-Buchs von Bernhard Pörksen finde ich keinen Beleg für den von Ihnen behaupteten Zusammenhang von Pädagogik und Missbrauch – schon gar nicht einen „eindeutigen“.
Mit ihrer Dachzeile haben Sie nicht nur ein unzutreffendes, sondern auch ein irreführendes und zu Unrecht diffamierendes Signal an die Leserinnen und Leser gesendet. Es ist, als wenn Sie zu einem Artikel über den Edathy-Prozess die Dachzeile gewählt hätten: „Sozialdemokratie und Kinderpornographie“ – so als wollten sie die Leser darauf aufmerksam machen, dass hier offensichtlich ein Zusammenhang zwischen dem politischen Ansatz der SPD und dem Ansehen von Kinderpornos bestünde. – Hartmut von Hentig und Gerold Becker waren überzeugte Christen und beliebte Redner auf Kirchentagen. Da hätten Sie auch titeln können: „Christentum und Missbrauch“, zumal es da ja auch die Missbrauchsfälle in katholischen Internaten gab. – Oder Sie hätten titeln können: „Internat und Missbrauch“.
Damit hätten Sie ein schwieriges Problem angesprochen: Wie kann man Kindern, die von ihren Eltern, aus welchen Gründen auch immer, abgegeben werden an andere Menschen, an Erzieher von Beruf, die dann stellvertretend die Funktion der Eltern übernehmen sollen … wie kann man diesen Kindern einen liebevollen Eltern- und Familienersatz schaffen und sie zugleich vor einer missbräuchlichen Ausnutzung dieser Situation schützen? Probleme der Internatserziehung, nicht der Reformpädagogik. – Oder sie hätten die Dachzeile allgemeiner formulieren können: „Pädagogik und Missbrauch“. Das wäre sogar eine verdienstvolle Herausforderung gewesen, die Herausforderung zu einer öffentlichen Diskussion über einige sowohl in der Erziehungswissenschaft wie auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit noch immer nur unbefriedigend beantwortete Fragen: Wie viel emotionale Zuwendung und individuelle Aufmerksamkeit ist notwendig und auch zulässig, um einem einzelnen Kind den Weg in ein gelingendes Leben zu bahnen? Wie viel Zuwendung und Aufmerksamkeit müssen insbesondere Lehrerinnen, Lehrer und Erzieher aufwenden, um nicht nur ein einzelnes Kind, sondern viele Kinder zugleich in einer Gruppe, einer Klasse, einem Heim auf diesem Weg zu begleiten? Welcher Art Zuwendung und Aufmerksamkeit ist da gefordert? Und wie sind diese Zuwendung und Aufmerksamkeit zu leisten? Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit das möglich ist?
Über „Pädagogik und Missbrauch“ kann man offen und unvoreingenommen reden, nicht aber über „Reformpädagogik und Missbrauch“. Diese Überschrift verdächtigt hunderte, nein, tausende von Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher und viele Pädagogen, die sich in ihrem Denken und Handeln für gelingende Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einsetzen, die sich bemühen, ihnen zu neuen Fähigkeiten zu verhelfen und neue Wirklichkeitsbereiche zu erschließen und in ihnen Selbstbewusstsein und Umweltverständnis, Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn zu stärken, ohne je an so etwas wie sexuelle Verführung zu denken.
Was haben Sie eigentlich gegen Reformpädagogik – Sie und offenbar auch die ZEIT- oder die Ressort-Redaktion (siehe meinen Leserbrief an die ZEIT vom
19.02. zu „Wer war dieser Mann“)? Was liegt Ihnen daran „Reformpädagogik“ in Verruf zu bringen Ich habe den Eindruck, dass Sie gar nicht wissen, was Reformpädagogik ist. Reformpädagogik ist weder identisch mit „Odenwaldschule“ – auch wenn diese lange Zeit als eine ihrer vorbildlichen Einrichtungen angesehen und viel besucht wurde -, noch ist sie identisch mit „Landerziehungsheim“ – auch wenn die Lietzschen Landerziehungsheime und ihre Nachfolger zu den frühesten und wegweisenden reformpädagogischen Gründungen gehörte. Das vorrangige Wirkungsfeld der Reformpädagogik waren die öffentlichen Schulen und die Lehrerbildung. Reformpädagogik ist auch nicht identisch mit Hartmut von Hentig. Er hat die Reformpädagogik nicht erfunden und war auch nicht ihr einziger Vertreter. Sein großes Verdienst ist es, dass er der Reformpädagogik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit seinen Schriften „Entschulung der Schule“, „Die Menschen stärken! Die Sachen klären!“ und „Schule neu denken“ und mit der Gründung der Bielefelder Schulprojekte erneut Geltung und neue Impulse gegeben hat. Das bleibt auch weiterhin ein großes Verdienst! Doch Reformpädagogik ist sehr viel mehr. Sie ist eine umfassende, Länder übergreifende, pädagogische Bewegung im Zusammenhang mit der Entwicklung eines öffentlichen Bildungswesens seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Ziel, das Leben und Lernen für alle Schüler in den Schulen zu verbessern und zu erweitern. Reformpädagogik ist so zugleich eine bleibende Herausforderung für die Zukunft.
Im Übrigen: ich habe nichts gegen die „ZEIT“. Im Gegenteil: Ich bin seit Jahren ein eifriger Leser der ZEIT, und ich weiß, sie zu schätzen.
Ich betrachte diesen Brief als einen offenen Brief, Sie können ihn gern an Ihre Kolleginnen und Kollegen in der ZEIT-Redaktion weitergegeben, so wie ich ihn auch an Freunde und Kollegen weitergeben werde.
Mit freundlichen Grüßen!
Theodor Schulze