„Eine Besprechung des dritten Bandes der Lebenserinnerungen Hartmut von Hentigs (im Folgenden: ML III) lag mir nach all der Diskussion und Polemik um diesen Band nicht im Sinn“, … schreibt FRAU PROF. DR. GISELA MILLER-KIPP: „… Dann aber entschloss sich die DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (DGfE) … in einem Akt nahezu rufschädigenden Verlustes von urteilender Souveränität, HvH den ihm von ihr verliehenen Ernst-Christian-Trapp-Preis abzuerkennen …“ Die Autorin verfasste das folgende Essay, im Dezember 2017 veröffentlicht in der Rubrik „Forum“ der Zeitschrift: „Bildung und Erziehung“ 70 (2017-4), S. 481–490.
UM HARTMUT VON HENTIG GERECHT ZU WERDEN: VERSUCH EINER BESPRECHUNG
Provoziert durch die peinliche Aberkennung des ihm 1998 von der DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT verliehenen Ernst-Christian-Trapp-Preises, versucht das Essay, Hartmut von Hentig (HvH) in eigener Sache zu verstehen, indem es den dritten und mutmaßlich letzten Band seiner Lebenserinnerungen – ein voluminöses und heterogenes Werk – unter dem Aspekt der dort niedergelegten Schreibabsichten würdigt. Denn vordringlich arbeitet sich der Autor in diesem Band an der causa sexueller Missbrauch in der Odenwaldschule und dabei an seiner Beziehung zu Gerold Becker ab, dies, um sich gegen Verdächtigungen sowie gegen falsche und kränkende Behauptungen in der wissenschaftlichen und der außerwissenschaftlichen Befassung mit dem „Odenwaldschul-Skandal“ zu wehren. Seine Grundintention dabei ist die Wiederherstellung persönlicher Glaubwürdigkeit. Das Essay stellt die innere, die subjektive Logik dieser Schreibintentionen sowie diejenige der dazu gehörenden Verstrickung HvHs in seine hier niedergelegte Liebesbeziehung zu Gerold Becker heraus. Im Übrigen wird die akribisch geführte und ausführlich dokumentierte Auseinandersetzung des Autors mit den Journalisten, kritischen Kollegen und „wohlmeinenden‘“ Freunden in der causa Odenwaldschule sorgsam nachverfolgt. Die im Band auch ausgebreiteten lebensgeschichtlichen Erinnerungen, schulpolitischen Einmischungen und Altersreflexionen werden referierend vorgestellt.
Eine Besprechung des dritten Bandes der Lebenserinnerungen Hartmut von Hentigs (im Folgenden: ML III) lag mir nach all der Diskussion und Polemik um diesen Band nicht im Sinn – wie kann man sich dem jetzt noch nähern und, legitimerweise: wozu auch die Mühe? Schon als Gattung ist das Buch schwierig, es setzt sich aus unterschiedlichsten Textsorten zusammen. Neben „Erinnerungen und Kommentaren“ (Untertitel) liegen vor: Dokumentation und Argumentation zum „Missbrauchs-Skandal“ an der Odenwaldschule Ober-Hambach („OSO-Skandal“), dabei zur causa Gerold Becker, ferner Autobiographisches: Familienerzählung und persönlicher Bildungsbericht, dazu staatsbürgerliche Einwürfe, Einmischungen und Beobachtungen, philosophische Reflexionen, pädagogische Programmatik, literarische Interpretationen und Gleichnisse … Bei all dem begegnet man wieder dem Bildungskosmos, dem weit gespannten elitären Beziehungsgeflecht und persönlichen Netzwerk Hartmut von Hentigs (HvH), ungemein belesen und sozio-kulturell interessant (das Namensverzeichnis umfasst 22 kleingedruckte Seiten!); darin bewegt sich der Autor immer noch so eitel, wie man das schon aus den beiden vorgängigen Erinnerungsbänden („Mein Leben – bedacht und bejaht“, 2007) kennt. Zwar bedenkt HvH jetzt „diese oder jene Eitelkeit“ selbst, spricht „zur Vorbereitung des Lesers“ (S. 9 ff.) auch von der „Arroganz“ der Leseaufforderung (S. 15), vergleicht sich darin aber mit keinen Geringeren als den autobiographischen Riesen Augustin, Rousseau, Goethe und Franklin, was einem sauer aufstoßen kann. – Zur Schwierigkeit also, mit dem gestückelten Buchtext und dem auktorialen Elitismus des Verfassers umzugehen, gesellte sich die Abneigung, sich über hunderte von Seiten auf den „OSO-Skandal“ einzulassen – man hat genug davon gelesen, die OSO ist zugrunde gegangen und HvH hat daran großen Schaden genommen. C’est ça.
Dann aber entschloss sich die DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (DGfE) im Januar diesen Jahres (2017) in einem Akt nahezu rufschädigenden Verlustes von urteilender Souveränität, HvH den ihm von ihr verliehenen Ernst-Christian-Trapp-Preis abzuerkennen, wegen persönlichen Versagens im „Missbrauch-Skandal“, wie man der gewundenen Stellungnahme des DGfE-Vorstands entnehmen darf (Download unter: www.dgfe.de/…/Stellungnahmen/2017.03_Sexuelle_Gewalt_in_paedagogischen_Kontexten; unter dieser Web-Anschrift auch eine Diskussion dazu) und wie in einer dreiseitigen „Stellungnahme des DGfE-Vorstands zu den Reaktionen auf den Beschluss, Hartmut von Hentig den Ernst-Christian-Trapp-Preis abzuerkennen“ vom Juni 2017 nunmehr auch direkt zu lesen ist, jetzt mit dem Verständnis heischenden Zusatz, man habe sich in einem „Dilemma“ befunden. Nun ja, wer sich in ein Dilemma begibt und dessen Lösung eine lange Erklärung nachliefern muss, hat das Dilemma nicht in den Griff bekommen. Zwar mag nicht ohne Verdienst sein, zur inzwischen vielfach diskutierten „sexuelle[n] Gewalt in pädagogischen Kontexten“ – in historischen Fokus steht dabei die Reformpädagogik – weitere Diskussionsofferten zu machen; dies aber anlässlich der Aberkennung jenes Preises und auch als deren Bemäntelung, ist nur peinlich. Zumal man sich damit am Ende anstellt einer langen Reihe von Aberkennungen, Ausgrenzungen, Ausladungen und Ausschließungen aus der Wissenschaft, der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Verlagswelt (die drei Verlage, in denen Hentigs Bücher bis 2009 erschienen, haben seinen Namen inzwischen sogar aus ihren Gesamtkatalogen gestrichen), die man HvH seit 1998 – Aberkennung des Comenius-Preises beim ersten gerüchteweisen Aufkommen und in Anschuldigungen stecken gebliebenen „OSO-Skandal“ – angedeihen ließ, dies mit betroffen moralischer Begründungssemantik, oft aber auch ausweichend oder sogar begründungslos (vgl. ML III, Kap. 17: „Folgen – nicht nur für mich“, S. 1071 ff.). Dazu darf man die Augen nicht verschließen vor den Hassschriften (a.O., S. 1 098 f.), vor den Anspuckungen, den Schmierereien an der Wohnungstür und vor dem Telefonterror (a.a.O., S. 1 072), dem HvH ausgesetzt war und ist – wie menschlich verbohrt muss der Vorstand einer Wissenschaftsgesellschaft sein, um sich jetzt noch an der öffentlichen Ächtung zu beteiligen. In der kultivierten Welt werden Auszeichnungen und Preise aberkannt, wenn die ausgezeichnete bzw. gepriesene Leistung auf Täuschung beruht, oder wenn über den Ausgezeichneten oder die Ausgezeichnete nachträglich Sachverhalte bekannt werden, aufgrund derer man zum Zeitpunkt der Auszeichnung von dieser abgesehen hätte. Beides ist hier ersichtlich nicht der Fall. Ausgezeichnet hatte die DGfE HvH 1998 (!) für seine entschiedene Formatierung von Pädagogik als öffentliche bürgerliche Aufgabe, damit für die „Wiederherstellung [von] Politik“ im pädagogischen Sektor (vgl. Eckart Liebau: Laudatio für Hartmut von Hentig. In: Gogolin, I./Lenzen, D. [Hg.] [1999]: Medien-Generation. Beiträge zum 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 49). Diese Leistung war seinerzeit und ist bis heute gültig, wie immer man HvH jetzt persönlich beurteilt, jetzt, nachdem ML III erschienen und der „OSO-Skandal“ zum „Fall von Hentig“ geworden ist, weil der Band Erwartungen gehöriger Reue und selbstkritischen Gestehens nicht erfüllte. Es kann aber der Autor nicht gestehen, was er selbst nicht getan hat; und wie Reue sich äußern soll über Taten eines anderen, von denen man zur Tatzeit nichts wusste, kann nicht vorgeschrieben werden. – Der sachlich abwegige und menschlich peinliche Akt also der DGfE veranlasst diesen Versuch einer Rezension. Sie will den inkriminierten Band vorstellen und dabei dessen ureigenes Anliegen im Auge behalten.
In ML III geht es HvH nicht um Rechtfertigung, nicht um die Rechtfertigung seiner selbst noch, so die schlimme Unterstellung in der öffentlichen Rezeption, um die rechtfertigende Beschönigung der Missbrauchstaten Gerold Beckers. Diese hat er unzweideutig als „schwere Verletzungen und nicht entschuldbare Übergriffe“ bezeichnet und verurteilt: „sexueller Missbrauch von Kindern ist ein Verbrechen“ (S. 1 037; vgl. S. 451, 579). Er hat jedoch hinzugefügt: „dass solche Übergriffe Gerold Becker anzulasten sind, trifft niemanden härter als seinen engsten Freund“ (S. 1 037). Das ist nun sehr missverständlich, man hat zu Recht daran Anstoß genommen – natürlich ist nicht der „engste Freund“, es sind vielmehr die Missbrauchsopfer am „härtesten“ betroffen. HvH erklärt nun in ML III, es habe ihn die totale Überraschung, die Nachricht und Faktum der Untaten Beckers für ihn war, daran gehindert, „zuerst mein Mitempfinden mit den Opfern auszusprechen“ (S. 1 360). Man glaubt ihm aber diese Überraschung, man glaubt ihm das Nicht-Wissen nicht, und davon hängt der ganze Fall, hängen Urteil über und Verurteilung von HvH ab. Es geht mithin um persönliche Glaubwürdigkeit; um sie kämpft der Autor mit ML III. Es ist der „Entzug der Glaubwürdigkeit, zu dem sich sehr viele Menschen, ein großer Teil der Öffentlichkeit und auch Freunde veranlasst gesehen haben“ (S. 15), der HvH in seiner ganzen Person, der ihn als Bürger und als Pädagogen zutiefst verletzt, ja zu zerstören drohte – dem Furor des Bandes ist das abzulesen. HvH war, und das weiß eben nur er allein, unwissend, er ist insofern unschuldig, die Doppelnatur Gerold Beckers bleibt ihm ein „Enigma“, mit dessen „schwere[n] Vergehen“ konfrontiert, kann er (sich) die Beschuldigungen „nicht erklären“ (S. 451). Sie treiben ihn aber um, und so steckt er noch beim Schreiben von ML III totunglücklich zwischen „unbefleckter Erinnerung“ (S. 453, Fußzeile) und faktischer Kenntnis. Das ist die psychisch qualvolle Grundlegung des angezeigten Bandes; ihn zu schreiben, hat für den Autor insofern möglicherweise auch therapeutische Funktion. Wer beides nicht erkennt und im Urteilen über HvH nicht bedenkt, dem mangelt es an Einfühlung und an humanem Verstehen – oder hat die anstrengenden 1369 Seiten nur kursorisch gelesen. Allerdings machen es ironische Semantik, ausweichende Erörterung und eben auktorialer Hochmut dem Leser nicht leicht, bei verstehender Lektürehaltung zu bleiben.
Für sie ist förderlich, sich an die „maßgebenden Absichten“ des Bandes zu halten, die „zur Nachbereitung des Lesers“ aufgeschrieben wurden (S. 1359 ff.). Es sind dies: 1., sich eben von „dem meine Person und meine Lebensarbeit vernichtenden Vorwurf [zu] befreien, ich hätte von Gerold Beckers Vergehen gewusst, sie sogar gedeckt und nachträglich sowohl bagatellisiert als auch zu vertuschen versucht“. 2. „Ich wollte und will den Freund nicht von Schuld frei sprechen, ich wollte und will, dass man den fehlbaren Menschen in ihm sieht. Man hat ihn zu einem Monster gemacht […].“ 3. „Ich wollte und musste erklären, was mich daran gehindert hat, zuerst mein Mitempfinden mit den Opfern auszusprechen, und warum es später nur in klausulierter Formulierung gelang […].“ 4. Ich hatte nicht vor, […] eine Rechtfertigung oder eine Kritik der Reformpädagogik vorzunehmen“ (S. 1360; kursiv im Orig.). Dies Letztere hat HvH inzwischen getan, insbesondere in Auseinandersetzung mit Miller/Oelkers (Hg. 2014): Reformpädagogik nach der Odenwaldschule – wie weiter? Von Hentigs Text dazu, 41 Seiten, wird neben weiteren Materialien zu ML III in seinem Nachlass im Literaturarchiv in Marbach „zugänglich werden“ (S. 1367). – Bei den Absichten eins und drei geht es im Kern um die persönliche Glaubwürdigkeit (s.o.), bei der zweiten Absicht kommt das Verlangen hinzu, dem „Freund“, Gerold Becker also, Menschlichkeit nicht absprechen zu lassen. Beide Absichten hängen unglücklich zusammen: Absicht zwei konterkariert die Absichten eins und drei, wie auch die Reaktionen auf den Band zeigen. Die Verrisse von ML III, die Missverständnisse, die anhaltende Polemik gegen seinen Autor speisen sich eben daraus, dass er sich seine Erinnerung an Becker bewahren, dass er sie nicht mit „der Jauche [da ist schon die Abwehr der Erkenntnis!] der späteren Erkenntnis“ (S. 451) übergießen will. Das ist zunächst zur Kenntnis zu nehmen. Es hängt mithin die Glaubwürdigkeit HvHs nach außen hin und hier im Blick auf ML III davon ab, ob man sein Verhältnis zu dem „Freund“ versteht – zu urteilen hat man nicht darüber.
Dem „Freund“ menschlich gerecht zu werden – Schreibabsicht zwei –, hat HvH im 7. Kapitel des Bandes unternommen:„Gerold Becker – wie ich ihn erlebt habe“ (S. 449 ff.). Hier schreibt er mit erstaunlicher Offenheit über Sexualität, Homosexualität und über die Liebesbeziehung zwischen ihm und Gerold Becker, freilich unter Ausklammerung ihrer erotischen Besonderheit – darüberwird hier geschwiegen wie zwischen den beiden darüber geschwiegen wurde: „Welche Scheu uns abgehalten hat, je über Pädophilie zu sprechen, weiß ich nicht“ (S. 476) – im 18. Kapitel äußert sich HvH noch einmal und jetzt erklärend dazu (s. u.). – Im 7. Kapitel also rekonstruiert HvH „fünf Phasen“ seiner „Gerold-Wahrnehmung“ (S. 484), anrührend dabei die fünfte, die Todesphase. Das Ganze, wie auch das nachfolgende 8. Kapitel unter der wehmütigen Überschrift: „Mit-Teilungen, wie ich sie dem Freund gerne machen würde“ (S. 487 ff.), ist eine Liebeserklärung an Gerold Becker, schwarz auf weiß und ebenso gut zwischen den Zeilen nachzulesen. HvH hat Gerold Becker geliebt, „heftig“, wie er schreibt (S. 478), abgöttisch, wenn man so will – siehe nur die dem „Freund“ gezollte Bewunderung (S. 452 ff.) –, Gerold Becker war die große Liebe seines Lebens. – Das geht nun eigentlich keinen etwas an, es ist einfach so, und so zu respektieren. HvH sieht das genauso (vgl. S. 477), ist aber dennoch gezwungen und hat sich gezwungen (s. o., Schreibabsichten), darüber zu schreiben; dabei geht es dann auch um den eigenen Part in dieser Liebesbeziehung. Wohl wissend, dass sie asymmetrisch war – „Gerold Becker hat mich nie so geliebt, wie ich ihn“ (S. 1055) –, vermutet HvH, dass Becker ihn „gesucht“ habe, um sich „aus der Abhängigkeit von den Jungen“, ja um sich „vor den eigenen Abgründen [zu] retten“ (S. 478). HvH schreibt sich mithin eine Rettungsfunktion zu und gerät damit in eine seelische und eine emotionale Zwangslage: Er konnte zu Lebzeiten Beckers sich von ihm nicht distanzieren, weil das geheißen hätte, dem „Freund“,dem innigst geliebten Menschen rettende Stütze zu entziehen; das geht menschlich gar nicht. Und es geht auch post mortem nicht, weil das hieße, sich seine große Liebe aus dem Herzen zu reißen. Das kann er nicht, das will er auch nicht, und darin also steckt HvH fest.
In welche Qualen ihn daher zunächst – 1998/99 – die Aufforderungen, den „Freund“, „den nun gnadenlos [!] Verfolgten“ (S. 601) zur Rede zu stellen, dann, 2010 ff., all die Rufe nach (Selbst)Erklärung, Rechtfertigung, Reue und dergleichen versetzten, kann man vor allem im 18. Kapitel: „Eine befreite Sprache – Bekenntnisse“ (S. 1144 ff.) nachlesen. Dies Kapitel schließt thematisch an das 7.Kapitel (s. o.) an. Von Hentig thematisiert jetzt ausführlicher das sozio-kulturell im Allgemeinen wie in seinem eigenen Falle auch lebensgeschichtlich im Besonderen begründete Schweigen über Sexualität und Homosexualität und erkennt darin die Ursache der Sprachlosigkeit zwischen ihm und Becker über – Beckers – Pädophilie. Hier treten die zwischen Beiden bestehenden „fundamentalen“ intimen „Mitteilungsschranken“ (S. 1187) zu Tage, und das gerade auch dort, wo der Autor sie als literarisches Problem, das „Unsagbare [zu] sagen“ (S. 1175, Fußzeile), verhandelt. Im Ergebnis seiner Überlegungen und Darlegungen formuliert von Hentig folgendes „Bekenntnis“: „Für Gerold Becker war entscheidend, dass er nicht wollte. Für Hartmut von Hentig war entscheidend, dass er nicht konnte. Ich konnte dem im Sterben liegenden Freund nicht öffentlich als Verbrecher verdammen.Ich konnte mir seine Taten nicht als gewalttätig vorstellen“ (S. 1190). Er konnte es nicht, so ist zu wiederholen, weil es ihn seelisch zerstört hätte, und daher wollte er es auch nicht, daher Abwehr von Anfang an: „er liebte ja mich, und ich liebte ihn“, was kümmerten ihn da – 1997/98 – „ominöse Anschuldigungen“ (S. 477), daher sind ihm Beckers Taten bis heute „ein Spuk“ (S. 1145) und ein „Enigma“ eben, mit dem trotzigen Zusatz: „dabei muss es bleiben“ (S. 451). HvH kann und will sich den doppelten, den möglicherweise ‚monströsen’ Charakter des „Freundes“ nicht vorstellen, obschon solche Doppelnatur – hier liebevoller Mensch, dort Verbrecher – dem homo politicus HvH aus der jüngeren deutschen Geschichte gut bekannt sein dürfte.
Dem „Fall HvH“ liegt erkennbar ein existentielles psycho-emotionales Dilemma zugrunde. Versteht man das, löst sich der „Fall“ in eine menschliche Tragödie auf. Versteht man das nicht, kann man nur mit Zweifel reagieren und HvH die Glaubwürdigkeit entziehen. – Ein Schlüsseltext für das Funktionieren des beschriebenen seelischen Dilemmas ist die Interpretation eines Berichts, den HvH im Nachlass Beckers fand und der ihm die Knabenliebe Beckers im konkreten Falle vor Augen führt (vgl. S. 1154 ff.). Der Bericht geht zurück auf die Studienzeit Beckers und schildert das Kümmern und das – mutmaßlich vergebliche – Werben um einen ihm als Fahrtenbetreuer anvertrauten 16jährigen Knaben; dazu enthält er späteres Liebesgeflüster Beckers an den erwachsenen Mann. Von Hentig überhöht diesen Bericht zu einer Elegie, zu einem „Klagelied in Prosa“, erkennt zwar, dass Becker „dem Jungen verfallen war“ (S. 1158), sieht aber gleichwohl, mit ausholender Interpretation, in der Zuwendung und den Handlungen Beckers gegenüber dem Jungen eine Form und ein Ausdruck „elementarer pädagogischer Leidenschaft“ (S. 1156). Das ist post festum so blind wie naiv. Es ist das Aufrechterhalten solcher Naivität, das nach außen nur trotzig anmutende Festhalten an dem Gerold Becker, „wie ich ihn kannte“, an „unschuldiger Erinnerung“ (S. 451), das HvH den beklagten Entzug der persönlichen Glaubwürdigkeit einträgt, ja ihn geradezu herauf beschwört und auch alles Missvergnügen an ML III gebiert.
Das erste Drittel des Bandes (Kap. 1-8) zeigt HvH als homo politicus und paedagogicus sowie als liebenden Freund (Kap. 7 u. 8, s. o.). Die ersten sechs Kapitel sind autobiographisch gehalten. Man erfährt Persönliches, liest über Reisen und „zwanglose Erlebnisse“ (S. 152), diese zumeist gesellschaftlich oder politisch konnotiert, liest ferner, anlässlich seinerzeit je aktueller Ereignisse und Diskussionen, Verbreitungen über ‚Gott und die Welt‘ (Kap. 5: „Politik – Mitdenken auch über den Tag hinaus“, S. 275 ff.). HvH schreibt außerdem „eine Koda zu meiner Pädagogik“ (S. 17 ff.) – tatsächlich deren noch einmal ausführlich begründete und abgeleitete Programmatik nebst einem Plädoyer für schulische Reformpädagogik im Format HvH und einem Plädoyer für das Wagen von pädagogischer und bürgerlich- politischer Utopie in der schulischen Wirklichkeit. Bei der Gelegenheit geht es ohne eine Auseinandersetzung mit den lähmenden Unsinnigkeiten einer auf Evaluation bedachten pädagogischen Wissenschaft nicht ab. – Konkret fassbar wird das (schul)pädagogische Programm an der Rekonstruktion zweier institutioneller Fälle: dem Versuch einer Entschulung nach „dem Hentig-Konzept“ an der Montessori-Oberschule in Potsdam (S. 35 ff.) und dem von einer Berliner Bürgerstiftung getragenen Schulprojekt „Land-Werk-Stadt-Wittenmoor“ (S. 40 ff; Wittenmoor ist ein Rittergut bei Stendal). Die Projekte haben unterschiedlich reüssiert, für beide hatte sich HvH leidenschaftlich engagiert, auch mit finanziellem Einsatz. Von der Findigkeit und der schulpolitischen Listigkeit, die er dabei an den Tag legte, kann man nur lernen. Dazu kann man nachlesen, mit wie viel Planungsbürokratie, schulpraktischem Unverstand und lähmendem Garantieverlangen reformpädagogische Schulunternehmungen zu tun haben. HvH weiß das, es hat ihn gelehrt, sich zu bescheiden, was ihm wiederum „den Abschied von der Pädagogik“ erleichterte (S. 55). Mutlos ist er darüber nicht geworden.
Der zweite Teil des Bandes, zugleich dessen zweites Drittel (Kap. 9-16), gilt der Darstellung/Dokumentation/Rekonstruktion des „OSO-Skandals“. Sie erstreckt sich auf die Schulinstitution ebenso wie auf den personalen Komplex HvH/Gerold Becker und ist Ergebnis von „Gedächtnismühsal“ (S. 155) und „jahrelanger […] Ordnungsarbeit“ (S. 1360). Dem ist zunächst uneingeschränkt Respekt zu zollen. Auf ‚flächendeckender‘ Quellenbasis: Zeitungsartikel, wissenschaftliche Veröffentlichungen, persönliche Korrespondenzen usw. (die vollständigen Quellen sowie dazu in ML III nicht zitierte Dokumente und Zeugnisse werden auch als CD vertrieben) rekonstruiert HvH die beiden genannten Komplexe von der ersten Erhebung von Missbrauchsvorwürfen 1997/98 über deren Erneuerung in der „Frankfurter Rundschau“ am 06.03.2010 und dem nachfolgenden unautorisierten Bericht von Tanjev Schultz in der „Süddeutschen Zeitung“ am 12.03.2010 – ein „Schlag“ (S. 685), mit dem der „OSO-Skandal“ recht eigentlich begann und mit dem HvH auch eigener Wahrnehmung nach seine Glaubwürdigkeit verlor – bis zur Schließung der Schule im Sommer 2015 (Kap. 9: „Götterdämmerung [!] im Odenwald“, 2017. 579 ff.). Ende desselben Jahres schloss HvH das Manuskript zu ML III ab (vgl. S. 1367). Damit ist der „OSO-Skandal“ freilich nicht beendet, vielmehr setzt er sich mit der Veröffentlichung des Bandes als „Fall HvH“ fort, vorläufig eben bis ins Jahr 2017. – Die Darstellung/Dokumentation/Rekonstruktion erfasst die bekannten Tatbestände in jeder Nische der beteiligten Milieus. In extenso setzt sie sich mit fünf Zeitungen auseinander (Kap. 11: „Fünf große Zeitungen brechen den Stab über mir [!] – System“, S. 697 ff.), mit fünf Publikationen (Kap. 12: „Fünf Publikationen fordern Entgegnung – jedenfalls von mir“, S. 765 ff.) sowie mit Widersprüchen in den vorgetragenen Argumentationen, dies unter der Kapitelüberschrift „Fünf Mal Widersprüchliches – die Mythen der anderen“ (Kap. 13, 2017. 940 ff.; die Überschrift hebt auf die vielfache Rede vom „Mythos Reformpädagogik“ in der Erziehungswissenschaft ab). – Die „fünf großen Zeitungen“ sind: die „Süddeutsche Zeitung“ – dessen Redakteur von Hentig 2010 eben in „missbrauchte[r] Arglosigkeit […] in die Falle“ ging (S. 658 ff.), so sieht er das –, „Der Spiegel“, „Die Zeit“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „Die Welt“. Die „fünf Publikationen“ sind: Christian Füller: „Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbraucht“; Jürgen Dehmers: „‚Wie laut soll ich denn noch schreien‘? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch“; Jürgen Oelkers: „Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik“ sowie zwei Dokumentarfilme von ARD und 3sat. – Alle fünf „Publikationen“ erschienen 2011, mit allen setzt HvH sich akribisch auseinander, betreibt Textexegese, argumentiert ausführlich und klug, wobei er die seinerzeitigeDarstellung und/oder Behauptung der Gegenseite erst wiedergibt, dann mit seinen damaligen Argumenten aufdröselt und/oder widerlegt. Dabei führt er auch neue Argumente ein und weist, nicht ohne Bissigkeit, eine Unmenge an (Text) Unterstellungen, sachlichen Fehlern, Missdeutungen, falschen Behauptungen, aber auch schiere Ignoranz und Dummheit nach – angesichts dessen versteht man den Furor, in den sich HvH hier hineinschreibt. Bei all dem fühlt er sich, seine Pädagogik und die Reformpädagogik anhaltend missverstanden. Die Souveränität, darüber nachzudenken, was er selbst mit all dem Missverstehen zu tun haben könnte, mithin kritische Distanz und Besinnung in der Darstellung/Dokumentation/Rekonstruktion des „OSO-Skandals“ hat HvH nicht. Das drückt sich auch so aus, dass er wohlgefällig, nicht nachdenklich Schreiben und Briefe kommentiert, in denen sich Verständnis artikuliert (Kap. 14: „Fünf Menschen wollen mir helfen – ich habe von ihnen gelernt“, S. 950 ff). Zudem haben ihn stets „Freunde“ zur Äußerung, zum Brechen seines Schweigens in der causa Becker gedrängt, nicht hat er dies aus eigener Überlegung getan, als in der Folge des Zwischen- und des Abschlussberichts zum „OSO-Skandal“ und im „Nachhall“ (S. 1005) auf den Tod Gerold Beckers sowie auf seine Todesanzeige für den „Freund“ entsprechende Aufforderungen massiv einsetzten (Kap. 15: „Fünf Ereignisse tun Wirkungen – Kalamitäten“, S. 1000 ff.). Die behutsamen und bedächtigen Anmahnungen von alten Weggefährten und Kollegen – ausführlich zitiert werden Briefwechsel mit Oskar Negt, Theo Schulze, Karl Heinz Bohrer und Albrecht Schöne; Felix Schoeller gab keine Abdruckerlaubnis, die dafür vorgesehene Seite im Band (S. 1068) bleibt frei – liest er mit „Kummer“, nachfolgende „Distanzierungen“ kränken ihn, er versteht sie nicht (Kap. 16: „Fünf Distanzierungen – Kummer“, S. 1044 ff.) und das Ganze deucht ihm ein „OSO-Becker-Hentig-Strudel“ (S. 1045). Hier macht es sich HvH leicht. Zu bedenken wäre gewesen, dass und inwiefern er selbst treibender, nicht nur getriebener Teil dieses „Strudels“ ist.
Vom dritten und knappsten Teil des Bandes (Kap. 17-20) wurden die Kapitel 17 und 18 bereits besprochen (s. o.). Die letzten beiden Kapitel tragen Reflexionen vor, Räsonnement im christlichen und im klassisch-humanistischen Horizont über letzte Dinge, Erfülltes, Unerfülltes und Versäumtes, Heil und Hoffnung, verbleibende Freuden, schwindende Kräfte – HvH ist beim Abschluss von ML III 90 Jahre alt, biblisch. Sich auf das eigene „Altsein“ besinnend (Kap. 19: „Altsein – Beschäftigungen, Befinden, Ur-Tatbestände“, S. 1192 ff.), besinnt er sich auf die „Tätigkeit, der ich seit fast drei Jahren ausschließlich nachgehe“, nämlich dem Erinnern als einem „geduldige[n] und systematische[n] Festhalten der Geschehnisse, die eine Person […] erlebt hat“ (S. 1226) und, so ist hinzuzufügen, der Verschriftlichung solcher Erinnerung. Von einem „systematischen“ Erinnerungsbericht ist ML III jedoch weit entfernt, „Memoiren“ (ebd.) im klassischen Sinne der Gattung liegen mit dem Band auch nicht vor, eine Autobiographie ist er nur zu Teilen. Im Blick auf die Form der Mitteilung ist er ein Stückwerk, wie eingangs beschrieben. Im Blick auf das schreibende Subjekt ist der Band das Dokument einer seelischen Fatalität. Wollte man in dieser Hinsicht eine Alltagsweisheit zitieren, könnte man sagen: in ML III ist nachzulesen, dass Liebe blind macht, im vorliegenden Falle freilich in existentieller Dimension. Bei Erziehungswissenschaftlern, die über „sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten“ forschen, muss man Sensibilität dafür erwarten, auch gegenüber Hartmut von Hentig.
Mehr zur Zeitschrift: „Bildung und Erziehung“ gibt es ab Januar 2018 unter: http://www.v-r.de/de/bildung_und_erziehung/m-118/500071/
Die Autorin:
Gisela Miller-Kipp, Prof. i. R., bis 2007 Lehrstuhl für „Allgemeine und Historische Pädagogik einschließlich der Pädagogischen Anthropologie“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. – Forschungsschwerpunkte: Anthropologie der Bildung; Erziehung, Frauen und Jugend im Nationalsozialismus.
Sehr geehrte Frau Professor Miller-Kipp,
es ist wohltuend, Ihren Beitrag im Medientagebuch zu lesen. Ihre Besprechung fokussiert auf die alles entscheidende Prämisse, auf der die öffentliche Verurteilung HvHs gründet: wird HvH sein Nichtwissen über die Missbrauchshandlungen an der OSO geglaubt oder nicht. Hier läge die Beweislast bei allen, die HvH öffentlich anklagen und verurteilen. Sie haben Beweise nicht erbracht, nicht erbringen können! Aber sie haben Leben und Werk eines großen Humanisten zerstört mit Folgen für Pädagogik und Schulentwicklung, die noch gar nicht absehbar sind.
Einen Hinweis möchte ich Ihnen geben: zu den 5 Zeitungen, die die Vernichtung HvHs betrieben haben, gehört zu allererst die „Süddeutsche Zeitung“ mit dem Artikel „Zeugnistage“ von Tanjev Schultz. Ihm ist HvH arglos in die Falle gegangen. Seinem Urteil: „HvH leugnet und bagatellisiert die Taten von Gerold Becker“ sind alle weiteren Kommentatoren gefolgt. Ich fände es bedauerlich, wenn Tanjev Schultz sich durch Ihre Besprechung aus dieser besonderen Verantwortung entlassen fühlen könnte. Ihm hat u.a. dieser infame Artikel Ruhm, Auszeichnungen und wohl auch eine Berufung zum Professor bzw. Dozenten eingebracht. Wie er das verantworten kann, ist mir ein Rätsel.
Mit freundlichen Grüßen
Dorothee Friebel