DOROTHEE FRIEBEL erinnert an die Verdienste von Hartmut von Hentig um eine humane Schule und bedauert das gegenwärtige akademische Schweigen um seine Person.
Als ich in den 19hundert 70er Jahren als Studentin nach Bielefeld kam, entstanden vor den Toren der Universität als staatliche Forschungseinrichtungen des Landes NRW die Laborschule und das Oberstufenkolleg, deren Gründer und wissenschaftlicher Leiter Professor Hartmut von Hentig war.
Von meinem Studentenappartement aus konnte ich den Wandel – heute würde man sagen den Paradigmenwechsel – in der Schulpädagogik, der sich da vollzog, täglich beim Blick aus meinem Fenster bestaunen: Statt auf einen betonierten Schulhof sah ich in einen Schulgarten und eine Anlage mit Spiel- und Klettergeräten, in der die SchülerInnen in den Pausenzeiten sich bewegen, spielen und aufhalten konnten – zwischen Blumen, Beeten und Bäumen, die langsam wuchsen und gediehen – wie die Kinder selbst. Diese Schule war anders als die staatlichen Schulen, an denen bislang in Deutschland gelernt wurde. Jeder, der die Laborschule besuchte, konnte diesen Wandel sofort sehen und spüren: keine hallenden Flure, keine Klassenzimmer eng bestuhlt, kein schrillender Gong, keine „Verbotszonen“ für SchülerInnen in „geheiligten“ Lehrerzimmern, keine Atmosphäre der Einschüchterung einer „höheren Lehranstalt“.
Hier hatte von Hentigs pädagogische Vision einer „Schule als Erfahrungsraum“ Gestalt angenommen, in der „Menschen gestärkt und Sachen geklärt“ werden sollten, deren praktische Herausforderungen und pädagogische Leistungen im Laufe der Jahre in vielen wissenschaftlichen Studien begleitet und dokumentiert wurden. Was heute zum pädagogischen Allgemeingut werden soll und mancherorts geworden ist, wurde damals von Hartmut von Hentig der Bildungspolitik und den staatlichen Systemzwängen erst abgerungen und in eine beispielhafte Pädagogik der Anwaltschaft für Kinder mit ihren Lern- und Lebensbedürfnissen umgesetzt: kein Kind wurde an der Laborschule zurückgelassen, das bedrohliche Schwert des Sitzenbleibens schwebte über diesen Kindern nicht, das Lernen in altersgemischten und inklusiven Lerngruppen förderte die sozialen Kompetenzen der SchülerInnen nachhaltig und von Anfang an.
Der Schulgarten, ein kleiner Streichelzoo, eine große gut ausgestattete Bibliothek, Schulküche, Mensa, Werkräume und Sporthallen boten den Kindern, die bis zum Nachmittag in dieser Schule bleiben konnten und wollten (!) eine in jeder Hinsicht förderliche Umgebung. Lehrer und Lehrerinnen der Laborschule hatten ihre Schreibtische auf offenen Flächen und waren für die SchülerInnen gut sichtbar und fast immer ansprechbar. Wer an Schulen unterrichtet, wird ahnen, dass dies eine besondere Herausforderung für die Lehrkräfte bedeutete.
Ich habe die Laborschule lange nicht mehr besucht – vielleicht ist dort einiges inzwischen anders geworden. Aber an den Schulen, an denen ich seit Jahren als Pastorin Religionsunterricht erteile, ist zu erkennen, wie dort – nun bildungspolitisch gewollt – nach und nach etwas von jenem Geist der Laborschule in die staatliche Regelschule um- und eingezogen ist, nur leider oft unter ungünstigeren Bedingungen, nicht immer unter Beifall der Kollegien und vor allem, seit den Auswirkungen des Missbrauchskandals an der Odenwaldschule – nicht mehr unter Nennung des geistigen Urhebers jenes pädagogischen Klimawandels: Hartmut von Hentig.
Nun hat ja bekanntlich der Erfolg viele Väter, nur die Niederlage ist ein Waisenkind und so wird, obwohl von Hentigs pädagogische Schriften und Impulse für den Wandel der Schullandschaft in Deutschland von größter Bedeutung sind, sein Name seit dem „Fall Odenwaldschule“ von und aus der pädagogischen Fachwelt verbannt. Das ist nicht nur in höchstem Maße persönlich ungerecht, sondern auch folgenschwer für die Entwicklung der Schulpädagogik selbst.
Wer wird als Anwalt für die Lern- und Lebensprobleme von Kindern und für eine humane Schule so eintreten, wie es auch heute noch nötig ist, wenn er sich nicht auf die Schriften Hartmut von Hentigs berufen kann?
Erfolge brauchen Erfolgsmodelle – und dies war und ist die Laborschule und Hentigs Konzept einer Schule als Erfahrungsraum, dieser „polis“ im Kleinen, an der Demokratie gelernt und gelebt werden kann. Daran wird auch das gegenwärtige akademische Schweigen um den Namen Hartmut von Hentig nichts ändern.
Aber es wäre zu wünschen und zu fordern, dass besonders die Gebildeten unter den Journalisten erkennen, welche Mitverantwortung sie hier tragen, um den menschlichen und pädagogischen Schaden zu begrenzen, der durch die Art der Presseberichte mitentstanden ist, durch welche Ruf und Werk Hartmut von Hentigs belastet worden sind.
Nachtrag:
Während in Bielefeld in den 70er Jahren die Laborschule und das Oberstufenkolleg von Professor Hartmut von Hentig gegründet und aufgebaut wurden, geschahen rund 350 Kilometer entfernt im Hessischen Oberhambach an der Odenwaldschule nicht zu entschuldigende sexuelle Übergriffe an Kindern, die erst nach Jahrzehnten ans Licht der Öffentlichkeit gekommen sind, die nicht zeitnah angezeigt, polizeilich ermittelt und juristisch geahndet wurden. Das ist zu bedauern, denn dies hätte der Wahrheitsfindung und Schadensbegrenzung gedient – für Missbrauchs- und Verleumdungsopfer gleichermaßen.